Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
diese Jahre mit einer Lüge gelebt habe …«
»Nein! Hör auf! Hör sofort damit auf!« Forrals Brüllen hätte sich auf jedem Schlachtfeld hören lassen können. Es erstaunte ihn, daß Anvars Stimme zu solcher Lautstärke fähig war. Aurian schloß abrupt den Mund, funkelte ihn aber weiter voller Zorn an. Eine Mischung aus Erleichterung und Entsetzen überflutete den Schwertkämpfer. Das also war der Grund, warum seine Rückkehr sie so erzürnte. Sie glaubte, er sei für Anvars Verlust verantwortlich! Er hielt ihr die Hand hin und verbarg seine Enttäuschung, als sie sie nicht ergriff. »Aurian, bitte hör mir zu. Setz dich einfach hin und hör mich an, während ich dir erkläre, was passiert ist. Wenn du mich danach weiter hassen willst – nun, das ist deine Sache. Aber zumindest wirst du dann die Wahrheit kennen.« Als er ihr Zögern sah, fügte er hinzu: »Bitte. Nach all unseren gemeinsamen Jahren schuldest du mir wenigstens die Chance, mich zu verteidigen.«
Aurian zögerte nur eine Sekunde lang. »Na gut«, antwortete sie leise. »Das ist nur gerecht.« Dann ließ sie sich auf den staubigen Boden neben dem leeren Kamin sinken. Sie legte sich den schlangenförmig geschnitzten Stab mit dem unheimlich funkelnden grünen Juwel auf den Schoß und strich mit rastlosen Fingern über das glatte, gewundene Holz. Forral wußte sofort, daß sie versuchte, ihren Zorn und ihre Angst zu beherrschen, um ihm wirklich zuzuhören. Er unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung und setzte sich ihr gegenüber hin. Ohne auch nur eine Sekunde lang den Blick von ihr abzuwenden, begann er zu sprechen.
Lord Pendrals ohnehin stets gerötetes Gesicht wurde vor Zorn purpurn. »Was soll das heißen, er ist einfach verschwunden? Du Idiot! Er ist nicht verschwunden – du hast ihn entkommen lassen, du jämmerliches Nichts von einem menschlichen Wesen!«
Im Gegensatz zu der dunklen Gesichtsfärbung seines Herrn war der Kommandant der Wache totenbleich. Adjutant Rasvald, der das Ganze von seinem sichereren Platz neben dem Stuhl des Hohen Herrn beobachtete, sah, wie sein Kommandant von einem Fuß auf den anderen trat. »Aber – aber, hoher Herr«, stammelte der unglückselige Mann. »Der Dieb ist in die Kanalisation unter der Akademie geflohen. Ich hätte nie gedacht, daß er den Mut aufbringen würde, dort zu bleiben. Ich dachte, die Geister würden ihn hinaustreiben, und ich hatte überall Männer postiert.«
Pendrals Miene wurde noch düsterer. »Oh, was für ein wunderbarer Plan. Du hast also beschlossen, die Zeit meiner Soldaten zu verschwenden, indem du sie auf einen Mann warten ließest, der nie auftauchte!« Seine Worte begannen mit einem drohenden Fauchen und endeten in einem Brüllen.
»Hoher Herr, bitte … ich habe doch gerade versucht, eine Verschwendung Eurer Soldaten zu vermeiden, indem ich sie nicht zu diesem bösen, von Gespenstern heimgesuchten Ort geführt habe …«
Die feige Unterwürfigkeit seines vorgesetzten Offiziers war ein peinliches Spektakel. Adjutant Rasvald wandte diskret den Blick ab – er hatte schon vor langer Zeit entdeckt, daß es für einen Mann in Lord Pendrals Diensten gesünder war, gewisse Dinge nicht zu sehen. Rasvald betrachtete die Wände der Bibliothek der Villa, wo eine dicke Farbschicht die Narben an den Stellen verdecken sollte, an denen die alten Bücherregale samt und sonders herausgerissen worden waren. Pendral hatte die Bibliothek in ein Audienzzimmer verwandelt, in dem er Bittsteller empfing und – noch häufiger – über jene zu Gericht saß, die ihm getrotzt oder eines der immer zahlreicheren Gesetze gebrochen hatten – ganz zu schweigen von jenen, die in ihrem Dienst versagt hatten, so wie der glücklose Kommandant.
»Hör auf zu winseln, du hirnloser, rückgratloser Wurm!« schrie Pendral. »Meine Männer verschonen wolltest du, ja! Und warum, bitte schön? Ich habe noch Hunderte davon! Nein …« Er zeigte mit einem dicken Finger, der wie eine juwelenbesetzte Wurst aussah, auf den zitternden Mann. »Gestehe – nicht der Gedanke an meine Männer hat dich davon abgehalten. Es war deine eigene Haut, die dir am Herzen lag. Du hattest Angst, dich den Geistern der Magusch zu nähern, also hast du dich feige zurückgezogen und diesen verfluchten Hurensohn von einem Dieb mit meinen Juwelen entkommen lassen, die jetzt irgendwo in den Gedärmen der Erde verschwunden sind!« Mittlerweile schrie Pendral vor Zorn. An seinem Hals und auf seiner Stirn traten die Adern hervor, und
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