Die Asche der Erde
»Wir haben etwas Besonderes für Sie gefunden, Professor«, sagte Sarah und gab ihm einen kleinen Zylinder aus gerollten Ahornblättern, verschnürt mit einer Ranke. »Ich wollte es Ihnen eigentlich heute Abend ans Gefängnisfenster bringen, aber …«
Der Knüppel traf Hadrians Schulter wie ein Hammer und zwang ihn auf die Knie. Der zweite Hieb ließ ihn auf die Hände zusammensacken.
»Nein!«, rief das ältere Mädchen, senkte den Kopf und ging auf den Aufpasser los, der hinter Hadrian aufgetaucht war.
»Weg da, verdammtes Gesindel!«, knurrte Sergeant Kenton und verpasste dem Mädchen, das ihn gegen einen Baum drückte, eine schallende Ohrfeige. »Ich habe euch schon gestern Abend gesagt, dass es mit euren Banden ein Ende hat! Ich werde sie finden, eure …« Da erkannte er Sarah, und sein Zorn verwandelte sich erst in Verwirrung, dann in Angst. »Das war nicht so gemeint«, murmelte er. »Die Häftlinge dürfen nicht einfach weglaufen, Miss. Ihr wisst doch, dass Mr. Boone vom Gouverneur wegen Zerstörung von öffentlichem Eigentum ein weiteres Mal zu Zwangsarbeit verurteilt wurde.«
Sarah richtete sich auf und rieb sich die gerötete Wange. »Und was sollen wir unserem Vater erzählen, wenn der Häftling, den er verurteilt hat, nicht arbeiten kann, weil Sie ihn verprügelt haben?«, fragte sie mit der strengen Stimme einer Erwachsenen.
Kenton bedachte Hadrian mit hasserfülltem Blick. Sie wussten beide, dass er bereit wäre, den getrockneten Kot ab jetzt eigenhändig zu schaufeln, wenn er dafür nur die Gelegenheit erhielt, Boone mit seinem Knüppel zu malträtieren. Der stämmige Sergeant schluckte vernehmlich und nickte dem Mädchen widerwillig zu. Gouverneur Lucas Buchanan war der mächtigste Mann der Kolonie Carthage – und der ganzen Welt, soweit die Leute wussten –, aber in seinem eigenen Haus hatten die Töchter das Sagen. »Gesetzesbrecher stehen in der Schuld der Gemeinschaft«, murmelte Kenton. Das war die sicherste aller möglichen Antworten, denn es stand wortwörtlich über dem Eingang des Gerichtsgebäudes der Kolonie.
Hadrian hielt einen Moment lang seine schmerzende Schulter umklammert, stand dann auf und wischte sich vertrocknete Blätter und Erde von der Kleidung.
»Dora, hast du gewusst, dass Sergeant Kenton früher malSchuhverkäufer war?«, flüsterte Sarah ihrer Schwester übertrieben laut zu.
Das kleinere Mädchen lachte spöttisch, hob die Halskette an und schüttelte das Amulett in Kentons Richtung, der instinktiv zurückzuckte. Es war die Rassel einer der einheimischen Diamantklapperschlangen, ein beliebtes Schmuckstück bei den Jugendbanden.
Der Polizist ballte die Fäuste und warf Hadrian erneut einen wütenden Blick zu, als müsse er derjenige gewesen sein, der die geheime Vergangenheit des Sergeants ausgeplaudert hatte. Kenton neigte vor Sarah unterwürfig den Kopf, wich zwei Schritte zurück, sprang dann plötzlich ins Unterholz und packte den schlaksigen Jungen an den Haaren. Dax versuchte sich zu befreien, aber Kenton schlug ihm brutal ins Gesicht. »Noch eine Woche und du bettelst bei den Halbtoten!«, herrschte er den Jungen an.
Dax’ Nase blutete stark, doch er strich sich nur das struppige blonde Haar nach hinten und grinste, während Kenton den Rückweg antrat. »Schakale laufen mit Geistern!«, rief Dax ihm hinterher. »Passen Sie gut auf Ihre Augen auf, Sergeant!«
Hadrian fand diese bizarren Worte genauso verstörend wie das Verhalten des Polizisten. Enttäuscht wandte er sich den beiden Mädchen zu. »Hört auf, euch mit der anderen Seite zu beschäftigen«, sagte er, wobei die Worte ihm fast im Hals steckenblieben. Nach dem letzten toten Kind hatte er eine Stunde lang nicht aufhören können zu weinen. Er wies auf die goldenen Getreidefelder und die dahinter ausgestreckt daliegende Stadt aus Holzhütten, Steinhäusern und Wellblechbaracken. »Das da ist euer Paradies.« Er hob die Kette auf und folgte seinem Bewacher.
Fünf Minuten später stand er wieder in der Grube voller getrockneter Exkremente, schaufelte den Dünger in einenverbeulten Korb und schleppte diesen dann zu dem Wagen, der ihn auf die Felder transportieren würde. Nachdem Hadrian sich vergewissert hatte, dass Kenton nirgendwo zu sehen war, zog er Sarahs geheimes Bündel hervor, wickelte es aus und fand darin mit jäher Freude ein halbes Dutzend herausgerissener Buchseiten vor. Er ging eilig zu dem großen flachen Stein im Schatten, wo zehn ähnliche Blätter zum Trocknen lagen. Er hatte
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