Die Asche der Erde
Eissegler wartet auf mich.«
»Das ging aber schnell.«
»Ich soll in den Camps schon morgen mit der Suche nach geeigneten Rekruten anfangen.«
Hadrian drehte sich langsam um. Es fiel ihm merkwürdig schwer, die richtigen Worte zu finden. »Es gibt viel zu tun.«
Sie machte einen zögernden Schritt auf ihn zu, dann noch einen. »In ein oder zwei Wochen startet die regelmäßige Postverbindung. Ich kann dir schreiben, wenn ich weiß, wo du sein wirst.«
Hadrian zuckte die Achseln. »Ich werde versuchen, einige von Jonahs Projektplänen zu entziffern. Die Werkstatt in der Bibliothek. Versuch’s damit.«
Sie schlang plötzlich die Arme um ihn und legte ihren Kopf an seine Schulter.
»Jori … ich kann nicht … ich bin zu …«
Als sie zu ihm emporblickte, lief eine Träne über ihre Wange. »Halt die Klappe.« Sie hob eine Hand vor seinen Mund.
»Ich weiß nicht, was ohne dich gewesen wäre«, sagte sie nach einem Moment. »Ich meine, ich hätte nie …«
»Halt die Klappe«, sagte er und nahm sie in die Arme.
Danach sagten sie nichts mehr. Hadrian ging zu dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, holte von der Lehne den Wollschal, den Mette ihm gegeben hatte, und wickelte ihn um Joris Hals. Dann fiel ihm die Packung Tee ein, die er an jenem Tag gekauft hatte. Er lief nach nebenan, um sie zu holen. Als er zurückkam, war Jori weg.
Hadrian rannte hinaus in die eisige Nacht, ohne an seinen Mantel zu denken. Keuchend erreichte er den Hügel oberhalb des mondbeschienenen Hafens. Der Eissegler wurde soeben hinaus auf den See gezogen. Hadrian sah zu, wie das große Segel sich füllte und das Boot sich zur Seite neigte und Fahrt aufnahm. Reglos verharrte er in der Kälte, bis Jori außer Sicht verschwunden war.
Bei Tagesanbruch war er in der Bibliothek und arbeitete an den Detailzeichnungen für die neue Brücke. Dann sichtete er den Stapel mit Jonahs Plänen. Nach einigen Stunden ging er hinaus auf den Balkon und betrachtete eine Weile die Stadt. Als er an den Tisch zurückkehrte, schob er die Akten beiseite, nahm mehrere Blatt Papier und stellte Jonahs Tintenfässer und Federhalter vor sich hin.
Er wusste nicht, wann er einschlief; er merkte nur auf einmal, dass jemand ihm eine Decke um die Schultern legte. Als er sich auf seinem Stuhl aufrichtete, wies Dax auf die Seiten, an denen er gearbeitet hatte.
»Chronik der Vereinten Kolonie, Jahr eins«, las der Junge von dem ersten Blatt ab und zog dann die Decke zurecht. »Es ist kalt hier drinnen. Sie müssen besser auf sich achtgeben.«
»Ich brauche jetzt einen Spaziergang, um einen klaren Kopf zu bekommen«, erwiderte Hadrian.
Draußen kauften sie bei einem Straßenverkäufer einige geröstete Walnüsse und schlenderten zu einem der kleinen Parks oberhalb des Hafenviertels. Die Karren waren auf dem Eis und traten die lange Reise nach New Jerusalem an. Man hatte die Pferde und Ochsen mit Nägeln beschlagen. Am nächstgelegenen Kai liefen Kinder Schlittschuh. Eine dicke Schneewolke zog über die Stadt.
»Du solltest in der Schule sein«, sagte Hadrian zu dem Jungen, als sie sich auf eine Bank setzten.
»Ich hab’s mit der Schule probiert«, sagte Dax. »Ich komme immer durcheinander mit dem, was wir nicht wissen sollten, und dem, was wir unbedingt wissen müssen.«
»Ich glaube, das wird sich ändern«, sagte Hadrian.
»Ich hab so die Nase voll davon«, sagte Dax mit seiner Altmännerstimme. »Ich wünschte, es gäbe einen Ort, an den ich gehen kann, wo keine Zeit existiert und der weder zu dieser Welt noch zu der letzten gehört. Und da möchte ich nur am Feuer liegen und genug Bücher für den Winter haben.«
Die ersten Schneeflocken fielen auf die Pflastersteine. Hadrian kratzte sich nachdenklich an der Wange und musterte die Schlittschuhläufer. »Weißt du, Dax, ich kenne vielleicht einen solchen Ort. Ich könnte dich hinbringen und ein oder zwei Tage bleiben. Und du könntest dann den ganzen Winter lang am Kamin sitzen und Bücher lesen.« Er merkte, dass sich zum ersten Mal seit Monaten ein zufriedenes Lächeln auf sein Gesicht legte. »Aber erst muss ich etwas wissen. Fürchtest du dich vor Bären?«
A NMERKUNG DES VERFASSERS
In der Geschichte der Menschheit ist die Welt immer wieder untergegangen. Manche dieser Enden kamen jäh, zum Beispiel die Vernichtung des antiken Karthago durch die Römer. Manche geschahen allmählich, zum Beispiel die seit fünfzig Jahren andauernde Zerstörung der tibetischen Welt durch die Chinesen. Doch nie war die
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