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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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schämt sie sich dieses Eingeständnisses ihrer Schmerzen. In der Nacht bringe ich ihr Wasser und verabreiche ihr Medikamente, aber bei Tag vermeidet sie es, sich auch nur auf meinen Arm zu stützen.
     
    Mischa hatte Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Ihre Augen waren geschlossen, und sie konnte sie nicht öffnen. Die Dunkelheit war das Scharlachrot ihrer Körperwärme, durchzogen von den Vorstellungsbildern der Adern in ihren Augenlidern, jenseits von denen es nichts als Nebel gab. Sie schwebte in einer Umgebung, der Schwerkraft, Druck und Licht fehlten, umgeben von einer Substanz, die alles aufsaugte, was sie sehen oder hören, berühren oder riechen könnte. Sie versuchte sich zu bewegen, und es schien, daß ihr das möglich war, wenn auch in sehr verlangsamter Weise, behindert von einem amorphen, nachgiebigen und elastischen Material. Sie stemmte ihren Arm dagegen, bis die Muskeln schmerzten, und als sie schließlich nachließ, war alles in derselben Position, aus der sie angefangen hatte.
    Sie lauschte, hörte aber nichts als das Rauschen des Blutes in ihren Adern. Ihr Gehirn nahm das Geräusch auf und machte in seiner Suche nach irgendeiner Wahrnehmung Musik daraus.
    Sie bekämpfte einen Fühler von Panik, aber er rollte sich nur in ihr zusammen und pulsierte und zuckte weiter. Sie versuchte ihren Widerstand durch Zorn zu stärken, und das half für eine Weile.
    Vorsichtig lauschte sie mit ihrem sechsten Sinn, beinahe so weit, wie sie damit reichen konnte. Sie war noch nicht verzweifelt genug, um Gemmi zu rufen. Niemand war nahe oder stark genug, um wahrgenommen zu werden. Seit langem hatte sie sich bemüht, die Empfindungen und Gedanken anderer Leute zu ignorieren. Im allgemeinen konnte sie ihre Anwesenheit ausmachen, ohne eine bewußte Anstrengung zu machen, wie sie es jetzt tat, und ihre Gemütszustände drängten sich von selbst und ungebeten in ihr Bewußtsein. Davon gab es jetzt nichts mehr. Sie zog sich in sich selbst zurück, so daß sie nicht überrascht und verletzt werden konnte, während ihre Aufmerksamkeit anderswo war.
    Wieder kämpfte sie gegen die Beengung und Behinderung an, aber es war nutzlos, hoffnungslos: Sie konnte nicht einmal fühlen, was sie festhielt. Ihre Finger konnten einander nicht berühren; sie konnte sie nicht zur Faust ballen. Unter ihren Bekannten gab es viele, die beim Diebstahl ertappt und ausgepeitscht worden waren, aber niemand hatte jemals eine Erfahrung wie diese beschrieben. Mischa dachte an Drogen, die sie des Wahrnehmungsvermögens berauben könnten, sogar des Gleichgewichts. Vielleicht taumelte sie in diesem Augenblick umher, ohne es zu wissen, während man zusah und lachte.
    Darauf hielt sie sich ganz still, zornig und ängstlich.
     
    Der Zeitablauf war nicht zu berechnen. Noch lange nachdem ihre Angst und ihre Wut vergangen waren, wagte Mischa sich nicht zu bewegen. Vielleicht langweilte sie inzwischen jene, die sie beobachten mochten, so daß sie im Begriff waren zu gehen, oder es waren erst wenige Minuten vergangen, und sie lachten wieder, weil ihre Gefangene so wenig Geduld hatte.
    Wieder versuchte sie die Fäuste zu ballen, streckte die Finger und krümmte sie, bohrte die Nägel in den Stoff, der sie umgab.
    Ihre Fingerspitze erfühlte eine winzige Unregelmäßigkeit in dem Material, das sie fesselte. Sie ließ von ihrem Vorhaben ab und konzentrierte sich auf diesen einen Quadratmillimeter Haut, der in Verbindung mit einer Art von Realität war. Sie befühlte die Unvollkommenheit, kratzte daran und wünschte, sie könnte sie fassen und aufreißen. Ihr Fingernagel bohrte sich unter die Unvollkommenheit, und sie zog daran, eine winzige, unbedeutende Bewegung, die sie enorme Anstrengung kostete. Aber das Stück Material gab nach; die defekte Stelle wuchs. Sie kratzte, bohrte und rieb daran, unfähig, sie aufzureißen. Sie erkannte, daß sie von der Anstrengung längst schwitzen müßte, aber die Substanz, in der sie steckte, paßte sich offenbar ihrer Körpertemperatur an und absorbierte den Schweiß, bevor sie seinen Ausbruch wahrnehmen konnte; selbst diese Körperempfindung war ihr verwehrt. In zorniger Enttäuschung kämpfte sie mit der winzigen Öffnung, bohrte und stieß, zerrte und dehnte, soweit ihre Kräfte reichten. Und auf einmal brach ihre Hand durch strukturlosen, zähen Schaum oder Gelatine.
    Helles Licht machte ihren Anstrengungen ein Ende.
    Die plötzliche Lichterscheinung, schmerzhaft wahrgenommen durch die geschlossenen Lider, verursachte

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