Die Asche der Erde
Schwindel und Benommenheit. Kräftige Hände ergriffen sie und zogen sie aus der beengenden Umhüllung. Sie ließ sich wie künstliche Haut oder ein Handschuh abziehen und zog sich danach elastisch zusammen.
Zwei dunkle Gestalten, beide groß und kräftig, machten sich mit ihr zu schaffen. Mit Leichtigkeit hoben sie Mischa auf. Nach so langer Isolation waren selbst die schmerzhafte Helligkeit des Lichts und der derbe Zugriff ihrer Hände willkommen. Langsam paßten sich die Augen dem Licht an.
Sie erkannte die beiden, die gekommen waren, sie zu holen. Ihre Familie war für die Justiz und ihren Vollzug im Bereich des Zentrums zuständig und bewachte das Eigentum derjenigen, die sich ihre Dienste leisten konnten.
Der Vollzugsbeamte untersuchte den Isolieranzug, den Mischa getragen hatte. Aus dem Riß, den sie gemacht hatte, quoll die zähe, gallertartige Substanz, die in dicker Schicht die Innenseite des Anzugs bedeckte. Er zeigte das Loch seiner Kollegin.
»Emsiger kleiner Balg«, sagte sie. Sie hatte eine schöne Stimme und Augen wie blaue Diamanten. »Wer hat diesen Anzug ausgegeben?«
»Ich weiß es nicht«, sagte der Mann, blauäugig wie sie und in seiner ganzen Erscheinung wie ihr Zwillingsbruder, wahrscheinlich aber nur ein Vetter zweiten oder dritten Grades.
»Das müssen wir feststellen«, sagte sie. »Du solltest eine Übungsstunde anberaumen und das Ding vorzeigen.« Sie blickte mit spöttischer Miene auf Mischa herab, die sich langsam aufrichtete. »Dir gefällt wohl nicht, wie wir gefährliche Kriminelle behandeln, wie?« Sie zeigte zur Tür der engen Kammer, in der sie Mischa gefangengehalten hatten.
Mischa kam zögernd vorwärts, ließ die beiden nicht aus den Augen. Diese beobachteten ihre Gefangene ebenso aufmerksam.
»Wir brauchen dich wohl nicht zu binden, oder?« fragte der junge Mann mit falscher Herzlichkeit. Mischa schüttelte den Kopf. Die Frau sagte nichts, aber ihre Mundwinkel zuckten; sie hatte Erfahrung mit verstockten jugendlichen Dieben.
Sie gingen längere Zeit durch einen geraden Korridor, betraten einen Aufzug und fuhren ein Stück hinauf, kamen in einen weiteren Korridor und folgten ihm. Mischa war noch nie im Viertel der reichen Familien gewesen, aber außer zahlreichen geschlossenen Türen gab es nichts zu sehen. Sie ging langsam daran vorbei, die Schultern eingezogen gegen die Furcht und den Haß, die sie überall umgaben.
Endlich betraten sie eine hohe, kuppelförmige Höhle, die der Rechtsprechung diente und die sie aus den Erzählungen anderer kannte, welche hier verurteilt worden waren. Auf den Bänken zu beiden Seiten des Richtertisches räkelten sich mehrere Leute, deren Funktion Mischa unbekannt war. Der Richter, ein älterer Mann, nickte den beiden Vollzugsbeamten schläfrig zu, als sie ihm Mischa vorführten.
Die Frau trieb Mischa mit Stößen in den Rücken unmittelbar vor den Richtertisch. Der Mann dahinter schien das älteste Mitglied der Familie zu sein. Seine weiße Mähne war von schmutziggelben Strähnen durchzogen, und die diamantene Härte seiner Augen war mit den Jahren wäßrig geworden. Er schüttelte bedächtig den Kopf, als Ausdruck seines Tadels, wie Mischa zuerst meinte, doch dann wurde ihr klar, daß es sich um eine Alterserscheinung handelte; er schien es nicht einmal zu bemerken.
»Euer Gnaden.«
Er hob ruckartig den Kopf, und sein Blick durchbohrte Mischa. »Du gehörst zum Haushalt deines Onkels. Er hat sich geweigert, Bürgschaft für dich zu leisten. Kannst du eine andere Person nennen, die dazu bereit sein würde?«
Mischa sagte nichts, und auch die anderen schwiegen. Sie hatte keine Hilfe erwartet und erhoffte nichts.
»Die Gemahlin unseres Herrn schickt sie zur Bestrafung. Wegen Diebstahls im Palast.«
»Ich habe nichts gestohlen.«
Die Bewacherin versetzte ihr einen Stoß.
Der alte Richter wartete. Es blieb unklar, ob er vor sich hindämmerte oder nachdachte. Schließlich blickte er auf und in die Runde und schien sich seiner Pflichten zu erinnern. »Vorbestraft?«
Mischa antwortete nicht. Der Bewacher schlug sie, packte ihren Hemdkragen und riß ihn mit einer kräftigen Bewegung abwärts. Die Knöpfe verfingen sich unter ihrer Kehle, sprangen ab, das Hemd riß vorn auf und hing um ihre Taille. Der Mann warf einen Blick auf ihren Rücken, wo sich die Narbe einer alten Messerverletzung über drei Rippen zog, aber keine von den eng-stehenden parallelen Narben einer offiziellen Auspeitschung zu sehen waren. »Nicht vorbestraft«,
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