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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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flacher schwarzer Kasten mit einer genarbten Lederoberfläche. Sie öffnete ihn neugierig.
    Aus der Dunkelheit glitzerten ihr Dutzende von Augen entgegen. Von der Größe eines Finger- oder Daumennagels, oder der ganzen sichtbaren Oberfläche eines Auges, waren sie kleine, vielfarbige, facettierte Kontaktlinsen, die das Licht durch die Ebenen geschliffener Edelsteine brachen. Die undurchsichtigen Irisverstärker hatten Öffnungen für die Pupille, aber auch von den durchsichtigen Facettenlinsen hatten viele nur Schmuckfunktion. Vor den Augen des Trägers teilten sie der sichtbaren Welt besondere Farbeffekte mit, zerbrachen sie in zahlreiche Einzelwiedergaben oder stellten sie gar auf den Kopf. Sie waren als Einzelstücke entworfen und handgefertigt; es gab kein Paar, das einem anderen völlig glich. Mischa schloß den Kasten und steckte ihn ein.
    Da die Augenlinsen nicht ausgestellt waren, mußten sie Konterbande sein, ohne Zollabgaben oder Steuern durch die Kontrollen der Familie des Tores geschmuggelt. Und das bedeutete, daß Mischa kaum etwas zu befürchten hatte, wenn sie sie an sich nahm; der Diebstahl konnte dem Sicherheitsdienst nicht gemeldet werden, und darüber hinaus hatte der Kaufmann wenig andere Möglichkeiten. Mischa bedauerte es beinahe, einen Mann zu bestehlen, der die Herzogin und ihre Leute betrog.
    Als sie das Geheimfach schließen wollte, klemmte die schmale Abdeckplatte. Sie zog sie wieder heraus und stieß sie ein zweites Mal zu. Es gab ein lautes, hölzern klappendes Geräusch, und Mischa erstarrte, aber hinter ihr erwachte der Kaufmann, noch benommen vom Schlaf und bewegt von dem Verlangen, so zu tun, als habe er nichts gehört. Er war unschlüssig und ängstlich, und ohne sich über die Ursache im klaren zu sein, verwirrt von den in seinem Bewußtsein zurückgebliebenen Spuren des fremden Eindringens.



Mischa hörte, wie er aufstand; sein Gewicht und seine Schwerfälligkeit machten die angestrebte Lautlosigkeit zunichte. Selbst wenn er sich auf Zehenspitzen bewegte, sandte er Vibrationen durch den Boden. Mischa wartete neben dem Vorhang des Durchgangs. Einen Augenblick später spähte der nackte Kaufmann in den Verkaufsraum heraus, eine Decke um die Schultern gewickelt. Nur die Pistole in der Hand machte ihn gefährlich. Als er zum Lichtschalter tastete, packte Mischa sein Handgelenk. Trotz seiner Trägheit war er kräftig, aber er hatte kein körperliches Training und keine Übung und war außerdem völlig überrascht. Es gelang ihr, ihm die Pistole aus der Hand zu schlagen und wegzustoßen.
    »Hinlegen!«
    Er grunzte wütend und machte Front gegen sie, hatte den ersten Schock offenbar überwunden. Mischa ließ die Klinge ihres Federmessers herausspringen. Das Geräusch brachte ihn zum Schweigen, und er legte sich gehorsam nieder, die Decke um sich gezogen. Mischa nahm sie ihm weg und schnitt Streifen von dem synthetischen Gewebe.
    »Das kannst du nicht machen«, blubberte er. »Nicht mit mir! Warte nur ...«
    »Still!« zischte Mischa und setzte ihm die Messerspitze in den Nacken. Er ergab sich in sein Schicksal.
    Mischa drehte die Deckenstreifen zu Stricken, band ihm die Handgelenke auf den Rücken, brachte ihn dazu, daß er die Knie beugte, und band ihm Füße und Hände zusammen.
    »Meine Arme ...«
    Sie beachtete ihn nicht, aber als er weitersprechen wollte, schlug sie ihm die flache Hand unter das Kinn, daß seine Zähne laut zusammenschlugen. Seine Stimme erstarb in einem unartikulierten, dumpfen Krächzen.
    »Ich verliere so leicht die Geduld, daß es mich manchmal selbst ärgert.« Mischa ängstigte ihre Opfer nicht mehr als unbedingt notwendig, um sie an Dummheiten zu hindern, die sie zwingen würden, ihnen Verletzungen beizubringen. Sie war eine Diebin, keine Sadistin.
    Der Juwelier wandte den Kopf über die Schulter und verdrehte die Augen, um sie sehen und in der Dunkelheit identifizieren zu können. Mischa öffnete wieder das Geheimfach und knebelte ihn mit einem der kleinen Wildlederbeutel. Der Mann zappelte und wand sich, als er merkte, was es war. Mischa mußte grinsen, wartete aber, bis sie sich überzeugt hatte, daß er an dem Lederbeutel nicht würgen, sich erbrechen und womöglich am Erbrochenen ersticken würde.
    Die Schatten im Ladeneingang wurden blasser; draußen flackerten die Lichter häufiger, fast gleichmäßig. Mischa wartete hinter der angelehnten Tür und schlüpfte zwischen zwei Helligkeitsphasen hinaus. Sie schloß die Ladentür, sperrte jedoch nicht ab.

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