Die Asche der Erde
Panik.
Die Lampen flackerten auf, wurden trüb, strahlten heller. Das Angstgefühl ließ viel langsamer nach als seine Geräusche.
Das Ergebnis der Sprengung schien ihre Gewalt kaum zu rechtfertigen. Auf der Höhe des Erdbodens war eine neue Öffnung in der Palastfassade entstanden, die von Arbeitern umschwärmt wurde, sowie die Staubwolke sich gesetzt hatte. Mischa klopfte sich den Staub aus den Kleidern und sah zu.
Die Arbeiter begannen die unregelmäßigen Ränder der Sprengöffnung mit Mauerwerk auszukleiden und einen neuen Eingang zur unteren Ebene des Palastes auszubauen. Im Viertel der reichen Familien, das dem Palast schräg gegenüberlag, standen Leute auf ihren Runderkern und beobachteten die Arbeiten. Mischa sah keine Verletzten oder Toten, was einem Wunder gleichkam, da die Sprengung ohne Warnung erfolgt war.
Sie bemerkte andere, subtilere Veränderungen: eine Unterströmung von Erregung, mehr Leute unter den Arkaden, wo die Schänken und Wirtshäuser sich Tür an Tür drängten. Es war wie im Frühling, wenn mehrere Schiffe auf einmal kamen. Mischa begann Ermüdung zu spüren, aber ihre Neugierde hielt sie in Bewegung. Sie ging die Spirale hinunter und traf Kiri, die ihr entgegenkam.
»Treibt es dich schon wieder um?«
»Was geht vor?«
»Ich nehme an, die neuen Leute wollten einen privaten Eingang zum Steinpalast.«
»Was für neue Leute?«
»Während du deine Wunden ausheiltest, landete ein Schiff.« »Jetzt, während der Winterstürme? Und du hast es mir nicht gesagt ...«
»Ich dachte, du solltest dich auskurieren«, sagte Kiri. »Außerdem hast du noch nichts versäumt.«
»Wer sind die Leute? Wie ...«
»Komm mit nach Hause, und ich werde dir sagen, was ich weiß. Und das ist nicht viel.«
Sie kehrten zu Mischas Nische zurück.
Aus dem Tagebuch des Jan Hikaru:
Seltsame Eindrücke von der Erde: Schmutziggelbe Wolken, ein mühsamer Fußweg- durch einen Sandsturm, der einen ungeschützten Menschen umbringen würde, ein Höhlenlabyrinth, darin gefangen Tausende von Menschen wie bleiche Termiten in einem unterirdischen Bau. Ich vermute, daß diese Stadt ursprünglich einer der großen unterirdischen Schutzraumkomplexe war, wie sie hier vor dem Letzten Krieg angelegt worden waren. Aus diesem Kern fraß sie sich in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten nach allen Seiten weiter durch den porösen, von natürlichen Höhlensystemen durchzogenen Kalkstein. Wir sind in prunkvoll ausgestatteten Räumen untergebracht, die ich, fensterlos und unterirdisch wie sie sind, als bedrückend empfinde, den Besatzungsmitgliedern des Schiffes jedoch zu gefallen scheinen.
Ich habe den Leichnam meiner Freundin noch nicht begraben; zuvor muß ich die örtlichen Bestimmungen und Bräuche in Erfahrung bringen. Wen sollte ich fragen? Bettler? Sklaven? (Es gibt Sklaven in dieser Gesellschaft. Wie kann ich mit diesem Wissen nichts tun?)
Ich kann nicht im Palast bleiben, ich kann nicht bei diesen Pseudozygoten und ihren Leuten bleiben. Ich habe hier keinen Ort, ich will keinen. Aber ich habe auch keinen anderen Ort.
Habe ich bloß Angst? Wenn etwas geschieht, was ich nicht akzeptieren kann, gegen das ich als Individuum protestieren müßte, werde ich dann untätig bleiben und Rationalisierungen erfinden?
Heute verließ ich den Steinpalast zu einem Spaziergang. Ich mußte hinaus. Ich ging eine schmale Straße hinunter, die von Schänken, Verkaufs-ständen und Freudenhäusern gesäumt ist, wo die Einwohner Dienstleistungen, ihre Körper, Drogen in jeder Form und von jeder Wirkung verkaufen. Und es wimmelt von Bettlern. Nie zuvor bin ich von Bettlern angehalten worden. Wenn ich meiner alten Freundin durch die Straßen half, kam es bisweilen vor, daß jemand mir eine Münze zustecken wollte. Ich bedauerte, daß ich kein Geld oder sonst etwas bei mir hatte, um es den verkrüppelten Kindern dieser Stadt zu geben, bis ich erkannte, daß ihre Mißbildungen und Verstümmelung-en künstlich herbeigeführt und nicht angeboren sind. Sie haben sich selbst verstümmelt oder sind verstümmelt worden.
Wie könnten wir die Erde solchen Zuständen überlassen?
Während der folgenden Tage beobachtete Mischa die Fremden aus einiger Entfernung und brachte alles über sie in Erfahrung, was sie von den Leuten, die mit ihnen Umgang hatten, erfragen konnte. Sie sah, daß der Teil des Steinpalastes, den diese Fremden bewohnten, viel weniger scharf bewacht war, als Blaisse es für nötig hielt, und daß sie keine derart
Weitere Kostenlose Bücher