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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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pathologische Angst vor der Stadt und ihren Einwohnern zu haben schienen. Dies ermutigte sie. Aber es war Zeit vergangen, und sie war gezwungen, davon Kenntnis zu nehmen: Ihr dringendstes Bedürfnis war das Herbeischaffen von Tribut, bevor ihr Onkel und Gemmi sie wieder riefen. Einen ganzen Tag lang beobachtete sie den Steinpalast von der Alpha-Spirale aus, ging aber nicht näher heran, und als die Lichter oben dunkelten, verließ sie ihr schäbiges Viertel und stieg hinunter zum Kreis.
    Sie hatte ihr Augenmerk auf einen der kleinen Läden gegenüber vom Palast gerichtet, die mit importierten Waren handelten. Ein breites, nur teilweise bebautes Felsband eine Ebene über dem Laden bot ihr einen Sitzplatz, der ihrer Spionage einen unauffälligen Anstrich geben konnte. Der Aufstieg hatte sie ermüdet, und während sie wartete, nickte sie immer wieder ein. Als die Deckenlampen auf ihre schwächste Nachtbeleuchtung geschaltet worden waren, zog der Kaufmann hinter seinem Schaufenster die Vorhänge zu und sperrte die Tür ab. Mischa wußte bereits, daß er hinter dem Laden hauste. Das war an sich kein Hindernis; sie war durch Ausbildung und Neigung eine Einsteigdiebin und verstand sich auf die geräuschlose Ausübung ihres Handwerks. Sie brauchte den Laden nur noch eine Nacht hindurch zu beobachten, um festzustellen, ob er einen Vertrag mit dem Wachdienst hatte oder einen eigenen Aufpasser bezahlte.
    Die Zweierstreife der Wachbeamten kam ziemlich früh vorbei und sah nach dem Rechten. Mischa strengte ihre Augen an, um die Träger der Uniformen genauer auszumachen, aber keine der beiden Gestalten war identisch mit der eisig blickenden Vollzugsbeamtin, die sie ausgepeitscht hatte. Sie mußte seit langem vom Streifendienst zu höheren Verantwortlichkeiten befördert worden sein, aber Mischa hätte gar zu gern ein Lokal ausgeraubt, für dessen Schutz diese Frau verantwortlich war. Sie wartete, bis die Nacht halb um war. Schließlich ging sie, weil sie an ihrer Fähigkeit zweifelte, weitere vier Stunden wach zu bleiben, langsam nach Hause.
     
    In der nächsten Nacht schleppten sich die Stunden dahin. Mischa beobachtete den Laden des Händlers von einem höhergelegenen Aussichtspunkt. Die Streife kam nur einmal vorbei, zur gleichen Zeit wie in der vorausgegangenen Nacht, und begnügte sich damit, an der verschlossenen Tür zu rütteln. Mischa wußte, daß es gut war; sie brauchte nur hineinzugehen und konnte mitnehmen, was sie wollte.
    Schweißperlen traten ihr auf die Stirn. Sie streckte die Hand aus und fand, daß sie zitterte. Sie ballte sie zur Faust, und die neuen Narben an ihrem Handgelenk wurden weiß. Ihr Körper versuchte ihr klarzumachen, daß sie vor allzu kurzer Zeit zu schwer verletzt worden war, daß sie noch schwach und von ihrer Nachtwache ermüdet war. Sie stieg über die Dächer ab, bis sie über dem Laden war. Ihre Knie und ihr Magen fühlten das gleiche: Angst. Sie vertrieb das Zittern mit Zorn auf sich selbst und ihre Angst. Wenn morgen die Zeit käme, sich zu entscheiden und hierher zurückzukehren, würde sie leicht eine neue Entschuldigung finden. Sie könnte sich einreden, sie sei zu müde, oder zu schwach, oder irgend etwas anderes. Die Möglichkeit solch zaudernder Selbsttäuschung schreckte sie nicht weniger als die Möglichkeit, daß sie am Ende den Mut verlieren mochte.
    In ihrem Umkreis war keine Bewegung, kaum ein Geräusch, die gedämpften Äußerungen eines schlafenden Lebens. Sie stieg auf das Dach des Ladens, streckte sich flach aus und lauschte. Stille belohnte ihre Vorsicht. Sie schob sich zur Kante, blickte hinunter und sah die Fenster, dunkel und mit zugezogenen Vorhängen, die Tür fest verschlossen.
    Chris hatte sie das Öffnen von Schlössern so frühzeitig gelehrt, daß sie sich an die einzelnen Lektionen nicht mehr erinnern konnte. Er war ein guter Dieb gewesen; sie war besser. Sie schwang sich vom Dach und erreichte ohne unnötiges Geräusch den Eingang. Mit ihren Dietrichen machte sie sich behutsam über die doppelten Schlösser her. Sie zu öffnen, war langwieriger, als sie vorausgesehen hatte, doch endlich klickte die Tür auf, und Mischa vernahm weder das nervenzerreißende Schrillen einer Alarmglocke noch die gedämpften Töne einer Warnanlage im Wohnquartier des Kaufmannes.
    Sie schlüpfte hinein. Halbedelsteine und Silberschmuck glänzten in Vitrinen. Als Mischa die Tür hinter sich zudrückte, veränderte sich die Helligkeit der Nachtbeleuchtung draußen. Bald würde es im

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