Die Asche der Erde
so sehr, daß sie ihm alles über sich sagte, ehe sie mit einiger Gewißheit beurteilen konnte, wie er zu Menschen stand, die nicht ganz normal waren. Wenn sie allein war, suchte sie in Büchern nach Erklärungen für diese Unterschiede, fand jedoch nur Theorien und neue Wörter, die alle die gleichen ungewissen Bedeutungen hat ten.
Das Lernen fiel ihr leicht, und selten vergaß sie etwas, was sie gelesen hatte. Sie faßte eine von natürlicher Neigung unterstützte Vorliebe für Mathematik und theoretische Physik, die ein ihr bisher unbekanntes Denken auf rein abstrakter Ebene ermöglichten. Im Fortgang der Studien fügten sich immer mehr Facetten zu einem eleganten, komplizierten und in sich geschlossenen System von Naturgesetzen. Das neue Wissen erfreute sie in einer Weise, wie sie es bislang nicht gekannt hatte; es bildete ein Gebäude von Schönheit und Ordnung, dessen Existenz sie immer geahnt hatte, wenngleich sie sein Wesen nicht hatte erfassen und ausdrücken können, wie Chris es in seiner Arbeit getan hatte, bevor die Veränderung über ihn gekommen war.
Mischa hatte ihren Bruder weder vergessen noch aufgegeben, aber sie konnte so kurz nach der Erlangung des ersten Zugeständnisses von Subzwei nicht ein zweites erbitten. Sie wußte, daß sie sich hier zu beweisen hatte; sie durfte nicht versagen, wie sie früher versagt hatte. In diesem Fall gäbe es für Chris nicht die geringste Chance. Diese Sorge blieb immer im Hintergrund ihres Bewußtseins.
Im Verlauf des Studiums entdeckte sie ihr Talent für das Erkennen von Zusammenhängen zwischen verschiedenen und scheinbar beziehungslosen Informationen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie es machte, und die Fähigkeit verblüffte sie zuweilen ein wenig, unerklärlich wie sie war. Mit dem Fortgang ihrer Studien wurden die Inhalte komplizierter und esoterischer, und hin und wieder kam es nun vor, daß sie ihrem Lehrer den Weg zur Lösung eines mathematischen Problems weisen konnte.
Und dann sagte er eines Tages, erfreut, aber ein wenig erstaunt, daß Mischa ihm einen mathematischen Beweis erklärt hätte: »Ich habe das gestern abend durchgelesen und nicht richtig verstanden. Aber du hast recht.«
Mischa starrte ihn betroffen an.
»Was ist los?« fragte er. »Was hast du?«
Sie begriff plötzlich, warum ihr manche intellektuellen Assoziationen so mühelos und rasch gelangen, mit einem intuitiven Verstehen der Zwischenschritte. Es hatte ausgesehen, als wäre die Information die ganze Zeit in ihr gewesen, ohne Rahmenwerk oder Terminologie in ihrem Verstand gespeichert. Tatsächlich war sie niemals dagewesen. Obwohl sie nicht imstande war, Jan Hikarus Empfindungen durch den Panzer seiner Selbstbeherrschung aufzuspüren, mußte es ihr irgendwie gelungen sein, sein Wissen parasitär zu nutzen und auf sich selbst zu übertragen, am Rande seines Unbewußten Einsichten zu stehlen und als ihre eigenen auszugeben. Sie war nicht besser als Gemmi, ein Relais für Worte, die ihr in Wirklichkeit bedeutungslos waren. Ja, sie war schlimmer als Gemmi; sie gab Verstehen vor, sogar sich selbst gegenüber, was Gemmi nicht tat und nicht tun konnte.
Sie ließ das Bedienungsgerät des Datenanschlusses auf den Teppich fallen und floh in ihr Zimmer, wo sie sich bäuchlings aufs Bett warf und das Gesicht in ihren Armen barg. Vielleicht hatte sie alle Einsichten, die ihr je zuteil geworden waren, aus anderen Menschen gesogen. Völlig ernüchtert, konnte sie nur denken, daß sie die Täuschung würde aufrechterhalten müssen, selbst vor Jan, den sie als einen Freund anzusehen gelernt hatte. Sie mußte ihn weiterhin berauben, wie Gemmi sie beraubte, lange genug, um Chris vom Zentrum wegzubringen. Nur so lange. Obschon in Täuschung geübt, hatte sie nie einen Freund verraten.
Wie sie so in der kühlen Dunkelheit lag, fand um sie her eine langsame und kaum wahrnehmbare Veränderung statt, als ob ein leises Geräusch, das Fließen eines stillen Wassers, das Wispern eines Luftzuges aufgehört hätte. Schließlich bemerkte sie es, wälzte sich herum und setzte sich auf.
Es dauerte ein paar Minuten, bis sie erkannte, was geschehen
war. Sie sprang auf, rannte aus dem Zimmer und über den Korridor und stieß den Vorhang vor Jans Raum zur Seite. »Jan ...« Sie verstummte und kam schweigend auf ihn zu. Er saß mit gekreuzten Beinen am Boden, hatte die Augen geschlossen und die Hände mit den Handflächen nach oben auf die Knie gelegt. Es war eine entspannte, aber künstlich-meditative
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