Die Asche der Erde
daß sie in diesem Termitenbau jeden Winkel kannte, während er ein hilfloser Neuling war. Sie kam zurück, faßte ihn beim Arm und führte ihn weiter und um eine Ecke in einen Höhlenraum, der von bläulichem Schein erhellt war. Das leise Glucksen und Plätschern dahinströmenden Wassers wurde von den hohen Gewölben der Höhle verstärkt. Hikaru trug seine Last zum Ufer des breiten unterirdischen Wasserlaufes. Das Wasser war schwarz und reflektierte seine Silhouette, als er sich vorbeugte. Der Leichnam in seinen Armen schien im Tode noch leichter, als er es im Leben gewesen war. Noch immer hegte er die irrationale Hoffnung auf irgendein Gefühl von Wärme oder Bewegung unter seinen Fingern. Mischa kam an seine Seite.
»Wohin fließt dieses Wasser?«
»Ins Freie«, sagte sie. »Aber erst nach einer langen Strecke. Es soll eine Gegend sein, wo viele kleine Quellen entspringen, die üppigen Pflanzenwuchs gedeihen lassen.«
»Und die Toten?«
»Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht, daß jemand es weiß. Das Wasser soll ganz rein sein, wo es an die Oberfläche tritt.«
Es war klar, daß der Wasserlauf sich nicht leicht verfolgen ließ, denn der Abfluß aus der Höhle war so eng, daß das Wasser gegen die ausgewaschene Decke des Kanals gurgelte. Hikaru kauerte nieder und starrte in das Wasser, auf Widerspiegelungen, die sich zu vervielfältigen schienen.
»Ich werde hinten auf Sie warten«, sagte Mischa und ließ ihn allein.
Er schlug die Isolierdecke auseinander und strich den schimmernden Atlas glatt. Die Stickerei trat im matten blauen Licht hervor, und ihre Gestalten schienen zu heimlichem Leben zu erwachen.
Ist es dies, was du dir gewünscht hast, meine Freundin? Möchtest du in diesem kalten Fluß untergehen und zerstückelt werden? Ich hätte dich ins Weltall hinausschweben lassen oder dich zu strahlend-glorreicher Vernichtung in eine Sonne gesandt, wenn du darum gebeten hättest. Du verdienst einen Scheiterhaufen aus Sandelholz und Seide, oder ein brennendes Schlund einen Hund zu deinen Füßen. Ist dies alles, was ich dir geben kann, eine Rückkehr zur Erde?
Aber die Worte fanden einen Widerhall in ihm, und Friede kam über ihn. Er beugte sich nieder und senkte den verhüllten Leichnam auf die Wasseroberfläche. Seine Hände und Arme tauchten ein, und er spürte den Sog des Wassers. Langsam, widerwillig ließ er seine Last fahren. Die Strömung erfaßte sie und trug sie rasch mit sich fort. Ein letztes Mal leuchtete die Stickerei naß-glänzend aus dem bewegten schwarzen Wasser, dann zog die Strömung den Körper unter die Oberfläche, und Hikaru sah nichts mehr.
Er verharrte lange regungslos am Ufer, auf den Knien liegend, die Hände im kalten Wasser, das sie allmählich gefühllos machte. Er war sehr ruhig, doch dauerte es eine Weile, ehe er merkte, daß die Störungen in der glasigen Oberfläche des Stauwassers vor ihm, die winzigen Riffel, die immer wieder erschienen und ausgelöscht wurden, als könne der Fluß die Unvollkommenheit nicht ertragen, von seinen Tränen herrührten.
9
Mischa hatte nie zuvor einen Lehrer gehabt, noch Zugang zu einer Bibliothek oder Zeit und Mittel, um Dingen nachzugehen, die sie interessierten. Während der folgenden Wochen standen ihr all diese Hilfsquellen zur Verfügung und gaben ihr die Möglichkeit, ihren Standort in Raum und Zeit zu bestimmen, gaben ihr eine Vergangenheit, eine Gegenwart, eine Zukunft. Die Welten der Sphäre, über die sie las, enttäuschten ihre Fantasie nicht. Es dauerte nicht lange, und sie verstand, warum Jan Hikaru gelächelt hatte, als sie mit ihrer Absicht herausgeplatzt war, sie wolle alles lernen.
Anfangs befürchtete sie, ihre Unwissenheit werde ihn langweilen und sogar abstoßen. Er hätte Subzwei ohne weiteres sagen können, daß sie dumm und unbrauchbar sei, um sich so der Verantwortung und Arbeit zu entledigen. Doch als sie ihn besser kennenlernte, wurde ihr klar, daß er dazu nicht einmal dann imstande gewesen wäre, wenn sie ihn mit ihrer Dummheit gelangweilt hätte. Er war teilnehmend, und ihre Fortschritte faszinierten und beschäftigten ihn, als wären es seine eigenen, obwohl er von Natur aus zurückhaltend war.
Im Laufe ihrer gemeinsamen Arbeit überwand er allmählich seinen Kummer, wenngleich er ihn weder vergaß noch zu einem Kult stilisierte; er akzeptierte den Verlust als ein Zeichen der Vergänglichkeit alles Lebendigen und hielt die Erinnerung in Ehren. Mischa begann ihm zu vertrauen, wenn auch nicht
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