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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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verstümmelte Hand, der die vorderen zwei Glieder sämtlicher Finger fehlten, faßte ungeschickt nach ihr; sie scheute wie ein nervöses Pferd. »Laßt mich in Ruhe ... verschwindet ...!« Sie kamen dennoch näher, umringten sie und lächelten, wenn sie wegsah. In ihrem Gewerbe verfügten sie über zwei Waffen: das Schuldgefühl und die Furcht der anderen. Beide waren wirksam. Die buckligen, zu Greisen gewordenen Kinder rückten ihr auf den Leib. Sie kannten Mischa: die hochnäsige junge Diebin, die nie eine Münze oder ein mitleidiges Wort für sie hatte, nur Arroganz. Sie sahen sie ängstlich; sie lächelten, bleckten schadhafte Zähne. Einer lachte, schrill wie ein verstimmtes Saiteninstrument unter dem Bogen eines Anfängers. Mischa wich zurück, bis sie eine rauhe Wand im Rücken fühlte. Die Rampe darüber war um ein geringes außerhalb ihrer Reichweite. Sie preßte die Handflächen gegen den Stein. Der Bettlerschwarm drängte näher, eine eklige Brandung aus stinkenden, abstoßenden Leibern, die sie umwogte. Mischa war verängstigt, aber nicht vor der physischen Gefahr, die sie darstellten. Sie versuchte nicht, in die Gesichter zu sehen. Einer sprang vom Rand des Halbkreises gegen sie vor, um sie zu Boden zu reißen. Er bekam ihren linken Arm zu fassen, und sie schlug mit der Faust nach seinem Kinn, um ihn abzuwehren. Ihre Knöchel versanken in knorpeligem Fleisch. Sie stieß ihn und einen zweiten beiseite und sprang nach dem Rand der Rampe, wo sie ihn erreichen konnte. Ihre Finger fanden Halt, und mit einem verzweifelten Klimmzug und heftiger Fußarbeitbrachte sie sich in Sicherheit.
    Mischa ließ die Tür hinter sich angelehnt. Der Vorhang von Chris' Nische war im oberen Drittel aufgerissen, und durch die Öffnung war kein Lichtschein zu sehen. Aber Chris war da, sie fühlte es: Sie stand bewegungslos und lauschte durch das Pochen des Pulses in ihren Schläfen und hörte endlich sein kurzes, leichtes Atmen. Sein Wesen war fast still, kaum auszumachen. Sie schob den Vorhang zurück und sah ihn in seinem Bett liegen. Als sie nähertrat, bewegte ihr Schatten sich zur Seite, und Licht vom Eingang fiel auf sein Haar. Seine halbgeschlossenen Augen glänzten unter den langen Wimpern.
    »Chris ?«
    Nach langer Pause antwortete er: »Ja?«
    »Kann ich eine kleine Weile hierbleiben?«



Wieder eine Pause. Dann hob er matt den Kopf und stützte sich auf einen Ellbogen. Seine Schulterknochen zeichneten sich spitz unter der Haut ab. »Mischa?«
    »Ja.«
    »Klar.«
    Sie kauerte neben dem Bett nieder. Das Licht von draußen fiel jetzt ungehindert ein und blendete ihn. Er blinzelte und hob die bis zur Transparenz abgemagerte Hand, um die Augen zu beschirmen. Mischa warf einen schnellen Blick zur rückwärtigen Wand und bemerkte erleichtert, daß dort seine abgetragenen Kleider hingen und alles verdeckten, was darunter sein mochte.
    »Was ist los?« sagte Chris.
    »Ich war gerade zu Hause.«
    Er berührte ihre Hand mit Fingern wie ein Fledermausflügel, schmal und zerbrechlich. »Kann ich helfen?«
    Sie schüttelte den Kopf. Er half schon, indem er da war und lebte; er half schon, weil sein Blick nicht abschweifte, obwohl seine Augen blutunterlaufen und die blasse Haut darunter von den Schatten der Erschöpfung gezeichnet war.
    »Was sonst?«
    Mischa hatte fast vergessen, wie beruhigend und angenehm Chris' Stimme war, wenn er nicht jammerte. Sie hörte sich besorgt und sehr müde an.
    »Er hat die Kinder verkauft.«
    Die Finger auf ihrer Hand drückten sie matt. »Ach ...«
    »Wir ...« Sie brach ab; sie konnte ihm nichts von der Schuld daran aufbürden. »Ich habe nie etwas für sie getan. Ich hätte sie zu mir nehmen sollen.«
    »Er hätte dich durch Gemmi gezwungen, sie zurückzubringen.«
    »Ich hätte es wenigstens versuchen müssen. Bei Gemmi wäre es mir unmöglich gewesen, ich hätte es nicht ertragen, sie die ganze Zeit so nahe zu haben, aber bei ihnen wäre es vielleicht anders gewesen ... Ich hätte mich um sie kümmern können, wie du dich um mich kümmertest.«
    Chris schaute weg. »Das war eine andere Sache, zwischen dir und mir ... Es war nicht das gleiche.«
    »Warum nicht?« Sie sagte es stumpf, nicht um eine Antwort zu erhalten, sondern weil sie glaubte, daß es keine Antwort gab.
    Chris hob die magere Schulter, ohne etwas zu sagen. Er starrte die mit Kleidern verhängte Wand an. Nach einiger Zeit wandte er den Kopf zurück und sah sie an. »Misch, weißt du, wenn er es wirklich wollte, dann hätte keiner

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