Die Asche der Erde
Kinder?«
»Fort.«
»Wo?«
»Wo meinst du?«
Das Blut wich ihr aus den Wangen. Sie hatte erwartet, daß er sie zum Stehlen schicken würde, wenn sie alt genug wären, aber sie hatte nie geglaubt, nie auch nur erwogen, daß er sie schlimmer ausnutzen würde. Mit zornbebender Stimme sagte sie: »Du hast sie verkauft.«
»Sie sind mein.«
»Das sind sie nicht. Du hattest kein Recht.«
Er lachte rauh auf. »Wolltest du sie?« Gemmi schmiegte sich wieder gegen seine Wärme, ohne zu begreifen, daß er derjenige war, den sie fürchtete.
»Aber warum?«
Er machte eine ausgreifende Handbewegung in die Runde, und sie sah den angestauten Neid und Haß in seinen Augen. »Dafür. Um dies zu haben, statt schreiender Bälger und Überdruß und Gestank und Schmerz.«
»Du hättest ...«
»Mich auf ihre Dankbarkeit verlassen sollen?« Er lachte bitter. »Sie hatten nicht dein Talent.« Er genoß seine Macht über sie. »Gemmi konnte sie nicht erreichen. Ich hätte nie etwas bekommen.«
Tränen des Zorns und der Schuld brannten in Mischas Augen. »Wohin hast du sie geschickt?«
»Wo du auch hingehen wirst.«
»Du kannst ja versuchen, mich zu zwingen.«
»Du hast dich erwischen lassen.«
»Und?« Ihre Stimme schnappte über, hoch und schrill vor Zorn.
»Wenn du in Schwierigkeiten bist, kannst du nichts für mich tun.«
»Ich wurde nicht wegen Diebstahls ausgepeitscht.«
Er lachte wieder. »Natürlich nicht«, sagte er sarkastisch. »Das sind viele Narben für nichts und wieder nichts.« Er drückte Gemmi fester an sich, streichelte sie abwesend. »Zieh deine Jacke aus!«
»Nein.«
Er lief rot an, dann entspannte er sich und lächelte. Zufriedenheit war ein Zug, dem sein Gesicht sich nicht leicht fügte. »Du würdest nicht viel wert sein. Zum einen bist du aus dem besten Alter heraus, und zum andern ziehen sie Kandidaten vor, die unversehrt sind, wenn sie anfangen.«
Mischa stockte der Atem. Damit hatte er angedeutet, daß ihre zwei kleinen Brüder und ihre fünfjährige Schwester als Bettler verkauft worden waren, um nach Laune und Dafürhalten ihres Eigentümers verstümmelt und zu abgerichteten Tieren gemacht zu werden.
»Wann?« Sie wich zurück zum Eingang, bereit, davonzulaufen, etwas zu unternehmen, irgend etwas zu tun.
»Lang genug«, sagte er. »Sie würden dich nicht wiedererkennen. Sie wissen nur, daß sie betteln müssen.«
Mischa tastete nach ihrem Dolch.
»Ach, hör schon auf«, sagte er. »Sie bedeuteten dir nichts. Hör auf, so zu tun, als hätte dir an ihnen gelegen. Du hast dich nie um sie gekümmert.«
»Das ist gelogen!« Aber es traf zu, daß sie nie versucht hatte, die Kinder zu sich zu nehmen und aufzuziehen, wie Chris es mit ihr gemacht hatte. Keines der Kinder war ihr wirklich eine Person gewesen; obschon bewußter als Gemmi, waren sie alle von begrenzter Intelligenz. Mischa und Chris hatten durch ihre Einkünfte dazu beigetragen, daß sie ausreichend ernährt und gekleidet worden waren, aber das zählte nun nicht mehr. Mischa begriff, daß sie eine weitere Verantwortlichkeit gehabt hatte, von der sie niemals freigesprochen würde, weil es zu spät war. Die Kinder hatten eine Chance verdient, ihr eigenes Leben zu führen.
Ihr Onkel dachte an den Schmerz in seinen Beinen und genoß gleichzeitig ihre Demütigung. Gemmi strahlte seine Empfindungen aus. Mischa zwang die ungebetene Störung zurück, aber ihr Widerstand verletzte das Mädchen nur, und Gemmi weinte über den unverständlichen Kampf. »Laß sie in Ruhe«, sagte Mischa. »Ich werde es nicht tun.«
»Ich habe in dich investiert«, sagte er. »Und ich denke, ich sollte es wieder herausbekommen.«
Mischa zog den Lederbeutel und das kleine flache Etui hervor. Sie warf ihm den Beutel vor die Füße. »Das ist von Chris.« Das Etui folgte. »Und das ist von mir. Sieh selbst, ob du danach immer noch denkst, wir kämen besser zurecht, wenn wir im Lohn für einen Hehler arbeiteten oder als Bettler im Dreck kröchen.«
Er nahm zuerst den Beutel auf und wog ihn in der Hand. »Vielleicht brauche ich ihn doch nicht zurückzurufen«, meinte er. »Aber ich hörte, er sei krank.«
»Er ist ganz in Ordnung«, log Mischa.
Er warf den Beutel mit den Steinen auf einen Rauchtisch neben der Couch. »Er ist nicht so leicht zu rufen wie du, aber ich werde ihn rufen, wenn er es nächstesmal nicht besser macht.« Er beugte sich vor, langte an Gemmi vorbei und nahm das Etui auf. Seine Finger strichen über das schimmernde, feingenarbte Leder und
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