Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
Vom Netzwerk:
lösten die Riegelhaken. Als er den Deckel öffnete, fing der Inhalt das Licht und warf es noch heller zurück zu den neuen Wandteppichen. Die Gefährtin setzte sich träge auf, doch selbst diese unbedeutende Reaktion war ein ernster Bruch der Pose, da sie ihre Habgier bloßstellte. Durch ihre Tränen sah Gemmi die blitzenden Widerspiegelungen und griff danach. Ihre ungeschickten Finger stießen dem Onkel das Etui aus der Hand, und die geschliffenen Augenlinsen wurden über den Boden hingestreut. Der Onkel stieß sie vom Schoß und ohrfeigte sie. Mischa spürte den brennenden Schmerz in Gemmis Gesicht, das Zusammenschlagen ihrer Kiefer, und schmeckte das salzige Blut. Sie suchte Halt an der Wand. Gemmi lag am Boden und wand sich schwächlich in halbausgeführten Kriechbewegungen. Neben ihr kroch in ähnlicher Weise der Onkel und scharrte die glänzenden Schmuckstücke zusammen, unterstützt von seiner Gefährtin. Mischa stolperte hinaus und fort von der Höhle. Sie war noch nicht weit gekommen, als Gemmi zu schreien begann. Ihr dummer und kranker Geist warf sich auf Mischa und erstickte sie. Mischa konnte fühlen, daß Gemmi wieder geschlagen wurde. »Mischa!« schrie sie. »Mischa !« Der einzige Name, den sie kannte. Mischa kehrte um. Ein letzter Schlag traf wuchtig Gernmis Schläfe, und Dunkelheit folgte dem Schmerz.
    Auf einmal war alles ruhig, alles um sie und in ihrem Geist. Die Stollenwand kühlte ihre Wange. Nach einer Weile stieß sie sich von ihr ab und stand frei. Gemmi war fort.
    Mischa wußte, daß sie zur Rückkehr gezwungen sein mochte, sobald ihre Schwester imstande wäre, sie zu rufen, aber sie konnte und wollte nicht bleiben und warten, daß sie wie eine Sklavin herbeizitiert würde. Für eine kurze Zeit zumindest, während ihre Schwester bewußtlos war, hatte niemand auf der Welt Macht über sie.
     
    Aus dem Tagebuch des Jan Hikaru:
     
    Es ist schwierig zu verstehen. Mischa kam und ist wieder gegangen, und ich weiß nicht wohin oder warum oder ob sie zurückkommen wird. Als sie zur vereinbarten Zeit nicht zu ihrem Unterricht erschien, rief Subzwei mich zu sich und fragte, wo sie sei, und ich murmelte etwas über einen dringenden Besuch in der Stadt. Ich sorge mich um sie, weiß aber nicht einmal, wo ich sie suchen sollte. Wie kann ich helfen, wenn ich nicht weiß, wo es fehlt? Ich dachte, wir hätten ein Vertrauensverhältnis aufgebaut ... Vielleicht sind ihre Schwierigkeiten mit Vertrauen allein nicht zu lösen.
    Ich mußte den Steinpalast verlassen und die Arkadengänge durchstreifen, vorüber an den Schänken, den Bettlern. Nur auf den sogenannten Hügeln, wo die Wohlhabenden sich angesiedelt haben, gewinnt man einen Eindruck von Geräumigkeit; davon abgesehen, ist es überall im Zentrum wie in einer Zelle.
     
    Am späten Vormittag erreichte Mischa den Boden des Zentrums und folgte dem Kreis. Gemmi hatte nicht wieder gerufen.
    Die Rufe der Händler und Bettler, das Stimmengewirr der Zecher und Passanten schlugen über ihr zusammen, als sie unter den Arkaden dahinging. Es war wie das Durchwaten eines unsichtbaren Morastes. Ein verkrüppeltes Kind kroch auf sie zu und zupfte sie an der Jacke. Sie machte sich los und wollte weiter, doch das Kind fand neuen Halt an ihrem Hosenbein, klammerte sich fest und quäkte sie an. Sie konnte es nicht ansehen, nicht einmal mit der höhnischen Verachtung, mit der sie und ihresgleichen auf Bettler herabzusehen pflegten. Sie riß sich los und eilte weiter, außerstande, das Kind anzusehen, in panischer Furcht vor neuen Verstümmelungen an vertrauten Körpern, vor ausgelöschten Erinnerungen, vor stumpfer Not in den Augen.
    Sie hatte sich immer gezwungen, dies und jenes zu tun, was sie zu fürchten glaubte, aber sie zwang sich nicht, die Bettler anzusehen. Sie rannte schneller, bis sie so außer Atem kam, daß sie glaubte, ihr Brustkorb müsse zerspringen. Sie stieß und rempelte Passanten an, die zornig wurden und sie geschlagen hätten, wären sie ihrer habhaft geworden. Tränen rannen ihr übers Gesicht und nahmen ihr die Sicht, Stiche durchbohrten ihre Seite, und der Atem war ein schmerzhaftes Röcheln in ihrer Kehle, doch sie lief weiter. Der tiefe Sand schien eigens herangekarrt und ausgebreitet zu sein, um sie zu behindern. Dann, vor dem Palast, versperrte ihr ein ganzer Schwarm von Bettlern den Weg. Sie kam strauchelnd zum Stillstand und blickte hilfesuchend umher, beinahe in Panik. Es gab keinen anderen Weg, sie mußte an den Bettlern vorbei. Eine

Weitere Kostenlose Bücher