Die Asche der Erde
das Ergebnis und lächelte. »Nun ... vielleicht nicht.« Er ordnete weitere Papiere. »Bis morgen«, sagte er in verändertem, beinahe munterem Ton. »Dein Unterricht. Vergiß ihn nicht.«
»Ich möchte gern über etwas mit Ihnen sprechen«, sagte Mischa.
»Morgen, morgen ...« Er beendete die Neuordnung der Papiere und konzentrierte sich darauf, sie in ein noch symmetrischeres Muster zu bringen. »Nicht jetzt, bitte.«
»Es ist wichtig.«
»Morgen, sagte ich!« Mischa spürte, daß seine Ungeduld keine Erwiderung mehr vertrug. Er stieß den Arbeitstisch heftig gegen die Wand und den Stuhl darunter. Mischa ballte die Fäuste, machte auf der Stelle kehrt und ging.
Chris lag genau so auf Mischas Bett, wie sie ihn verlassen hatte, flach auf dem Rücken, die Augen offen, den abgezehrten Körper in die weiche Steppdecke gebettet, daß er kaum zu sehen war. Mischa blieb neben ihm stehen, beobachtete ihn und wartete, aber er bemerkte sie erst, als sie ihn berührte.
»Chris«, flüsterte sie. Er zwinkerte, zeigte aber weiter keine Reaktion. Mischa schluckte und beugte sich über ihn. »Chris, möchtest du was? Kannst du etwas essen?«
Er befeuchtete sich die aufgesprungenen Lippen. »Ich möchte bloß schlafen. Hast du es gebracht?«
»Es war nichts mehr da.«
»Ach ja«, murmelte er. »Das stimmt. Ich hatte den Rest genommen.« Er lächelte unangenehm, als wollte er sich rächen. »Du hättest mich allein lassen sollen.«
»Sei still !«
Er hob den Kopf, und Mischa sah etwas vom alten Kampfgeist in ihm wach werden und nach Ausdruck suchen. »Dachtest du, daß du mich hierhergebracht hast, würde etwas ändern?«
»Ich werde dir was besorgen«, sagte sie. »Ich werde schon was auftreiben. Bleibst du hier?«
Seine gesprungene Unterlippe riß auf, und ein dünner Blutstropfen quoll hervor und rann über sein Kinn. »Ich werde tun, was ich will«, sagte er.
Wieder suchte sie Jan, konnte ihn jedoch nicht finden und hatte nicht die Zeit, auf ihn zu warten. Sie vermutete, daß er einen seiner Ausflüge ins Zentrum unternommen hatte, die bis zu zwei Tage dauerten. Er hatte mehr als sie für die Menschen übrig; es machte ihm Freude, sie zu beobachten und mit ihnen zu reden. Bei zwei Gelegenheiten hatte sie ihn begleitet und ihm als Führerin durch die Viertel jenseits der Schänken und Bordelle gedient; hatte ihm Namen erklärt und Landmarken gezeigt, hatte ihm die Struktur der Stadt und ihrer Gesellschaft erläutert. Bei seiner ersten Exkursion hatten die Einwohner mit Ehrerbietung, Argwohn und Furcht auf ihn reagiert, wie sie auf jeden Besucher aus dem Palast zu reagieren gewohnt waren. Das zweite Mal sprachen sie ihn an, plauderten, lachten und beklagten sich, ohne daß er sein Auftreten geändert hätte. Als Mischa seinen Gesprächen gelauscht hatte, war ihr Jans Bemühen aufgefallen, sich dem Akzent der Stadtbewohner anzupassen. Er glich keinem Menschen, den Mischa je im Zentrum gesehen hatte, doch je häufiger er die Stadt besuchte, desto mehr schien er mit ihrer Bevölkerung zu verschmelzen.
Sie wünschte, er wäre da, um sie zu beraten. Sie vermochte nicht zu sagen, ob der Aufenthalt im Palast sie geschwächt oder gestärkt hatte, ob sie eine neue Hilfsquelle hatte oder im Begriff war, ihr Selbstvertrauen zu verlieren, aber sie wünschte, Jan wäre jetzt bei ihr.
11
Am gleichen Abend, nach langwieriger Suche, nach umständlichem Feilschen und sogar Betteln, kehrte Mischa mit einer Kapsel Schlaf in der Tasche zum Palast zurück. Der Gedanke, daß sie Chris den ganzen Tag allein gelassen hatte, ließ ihr keine Ruhe, und sie hatte es eilig. Wenige Leute verwendeten die Droge, und sie war schwierig zu finden. Die Lampen der öffentlichen Beleuchtung flackerten in der Vorbereitung auf die Nacht.
»Mischa!«
Hinter ihr trat Jan Hikaru aus einem Seitenweg in den Kreis. Er trug dieselben Sachen, die er immer anhatte, aber seine Stiefel und die dunkle Hose waren staubig, und seine Jacke sah viel älter aus, als sie war. Mit dem ungekämmten, fahlen Haar und seinem rotblonden Schnurrbart, der über die Mundwinkel herabhing, hatte er etwas von einem Briganten an sich. Mischa hielt ihn für einen der freundlichsten Menschen, die sie je kennengelernt hatte, doch wäre sie ihm in diesem Augenblick zum erstenmal über den Weg gelaufen, so hätte sie wahrscheinlich das Weite gesucht. Das Warten auf ihn, obwohl es nicht mehr als ein kurzes Verhalten war, vermehrte ihre Sorge um den Bruder.
Jan nickte ihr zu
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