Die Aspern-Schriften (German Edition)
allen Beteiligten wissen wir nichts über ihr Alter und ihr Aussehen. Die Camouflage ist perfekt gelungen. Wir wissen nicht, ob wir die Jüngeren als ein Paar imaginieren sollen, das eigentlich gut zusammen gepasst hätte, aber, schade, schade, es ist alles anders gekommen …
Als Henry James diese Erzählung 1888 schrieb, hatte er seine literarische Technik zu einer Vollkommenheit verfeinert, die ihm keinen Erfolg mehr in seiner Leserschaft bescherte. Die Indirektheit seines Stils, der Anspielungsreichtum und die stetig sich verknappende, immer komplexer werdende Sprache, die er gern einem Erzähler in den Mund legte, gar nicht zu reden von der Rigorosität und Unerbittlichkeit seiner Ironie, mit der er seinen Figuren zu Leibe rückte, hatten ihn zunehmend zu einem Autor für literarisch Gebildete gemacht, so hieß es, lieber möchte ich sagen, für Lesende, die an der kleinen Mühe der Entschlüsselung, am Gedankenspiel des erhellenden Lesens Lust haben. Gerade bei dieser Erzählung drängt sich die Empfindung auf, dass die Lust am Text Ersatz für die im Text selbst nicht gebotene, ja verweigerte Lust ist. Denn neben der Zuspitzung seiner literarischen Methode führt James hier auch eines seiner Lebensthemen zu einem Höhepunkt: das nicht gelebte Leben, nenne man es auch das verfehlte, verspielte, verhinderte, das freudlose. Nirgendwo vollzieht er die Durchführung des Motivs so rückhaltlos auf allen Ebenen, so variantenreich nicht nur in der Darstellung der Personen und ihres stets irrigen Tuns, sondern sogar in Bezug auf den Ort der Handlung und seine Schauplätze, die immer Kulisse sind. Welch eine Kunst der Auslassung oder der Unterlassung, Venedig zur Bühne des Geschehens zu machen und die Lagunenstadt völlig ihrer romantischen Allusionen und kulturellen Accessoires zu entkleiden, so dass nichts als düstere Kanäle, ein verfallender Palazzo und ein unwirtlicher Lido übrig bleiben, eine Stadt, die ansonsten aus dem Markusplatz mit Café Florian besteht, außerhalb dessen man sich hoffnungslos verläuft. Welch eine Kunst, einer Stadt wie Venedig eine solche Seelenkälte einzuhauchen, denn Seelenlandschaft ist hier alles.
James hat Venedig viele Male besucht, und man darf davon ausgehen, dass jeder Schritt, den er seine Figuren tun lässt, Widerhall seiner eigenen Schritte ist. 1881 verlebte er dort seinen ersten längeren Aufenthalt, bei dem er, im Café Florian sitzend, Beobachtungen festhielt, die er später in verschiedene Erzählungen aufnahm. Erst bei seinem nächsten Besuch im Jahr 1887, als er in dem feuchten und unwirtlichen Palazzo Recanati zu Gast war, kam ihm eine Anekdote in den Sinn, die er früher in Florenz gehört hatte, und nach dem Umzug in den freundlicheren Palazzo Barbaro begann er mit der Niederschrift der Aspern-Schriften . Doch weder der ungemütliche noch dieser Palazzo, am Canal Grande gelegen, dienten ihm als Modell – letzterer figurierte Jahre später in seinem Roman Die Flügel der Taube – sondern ein Palazzo Cappello nahe dem Ponte Bergami unweit des Bahnhofs. Und nun das Erstaunliche: So unbelebt die Stadt bleibt, so lebendig wird das Haus, in das sich der Erzähler Einzug verschafft. Der alte Palazzo wird wie ein Lebewesen behandelt, ein Haustier mit Eigenschaften, das stille Resignation verströmt, als habe es seine eigentliche Karriere verfehlt, nämlich Hülle für ein glanzvolles Leben zu sein. Seine Außenhaut bietet Fläche für venezianische Lichtspiele, wenn die Abendsonne sie in rosigen Schimmer taucht. Die bröckelnde Fassade, so reizvoll und verführerisch, dass keine Frau in diesem Buch es mit ihr aufnehmen kann, wird beschrieben als reine Malerei. Hier entfaltet James vor dem Blick des Lesers eine Vedute von Canaletto, dem venezianischen Maler (1697 – 1768) und Porträtisten seiner Heimatstadt, einem Meister der Lichtregie, der wie kein anderer die Sonne so auf Mauerstücke zu lenken verstand, dass noch aus dem ärmlichsten Winkel eine glanzvolle Stadtansicht wurde. Aber für den Palazzo mit seinen Balkonen, Pilastern, Bögen und Stukkaturen wie für seine schmucklosen Bewohner gilt: An die Stelle des wahren Lebens tritt die Kunst. Dieses Leitmotiv beherrscht die Erzählung mehr, als der wüste Plot auf den ersten Blick vermuten lässt.
Diesem liegt die Anekdote aus Florenz zugrunde, die sich dort im Jahr 1879 zugetragen hat. Die hoch betagte Claire Clairmont, die Halbschwester von Shelleys Frau und Mutter von Lord Byrons Tochter Allegra, lebte von
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