Die Aspern-Schriften (German Edition)
den Sinn kam, die das venezianische Leben wesentlich prägen. Da es hier keine Straßen mit Fahrzeugen gibt, keinen Lärm von Rädern, keine ausbrechenden Pferde, stattdessen aber die kleinen, verschlungenen Gassen, wo die Leute sich drängen, wo die Stimmen klingen wie in Hausfluren, wo die Schritte der Menschen einen Zickzack vollführen, als müssten sie um Möbelecken herumgehen, und wo man seine Schuhe niemals abträgt, wirkt die ganze Stadt wie ein riesiges gemeinschaftliches Wohnhaus, in dem die Piazza San Marco die am schönsten ausgestattete Ecke darstellt und die Palazzi und Kirchen, die es sonst noch gibt, die Rolle von großen Ruhelagern spielen, von gastlichen Tafelrunden und ausladenden Dekorationen. Und irgendwie erinnert das prachtvolle Gemeinschaftsdomizil, das so vertraut und häuslich wirkt, so voller Widerhall, auch an ein Theater mit seinen Schauspielern, die mit klappernden Absätzen über Brücken gehen und in langsamen Prozessionen über das Pflaster trippeln. Wenn man in seiner Gondel sitzt, werden die Fußwege, die in manchen Stadtteilen unmittelbar an die Kanäle grenzen, für das Auge des Betrachters zu Bühnen, die auf Augenhöhe liegen, und die venezianischen Gestalten, die sich vor dem schon recht verwitterten Bühnenbild mit ihren kleinen Lustspielhäusern hin und her bewegen, erscheinen einem wie Mitglieder einer unendlich großen Theatertruppe.
In dieser Nacht fiel ich sehr müde ins Bett, ohne vorher noch in der Lage gewesen zu sein, ein paar Worte an Miss Tina zu formulieren. Lag es an diesem Versäumnis, dass ich am nächsten Morgen, gleich nach dem Erwachen, den dringenden Wunsch in mir verspürte, die gute Dame wiederzusehen, sobald sie bereit wäre, mich zu empfangen? Es hatte etwas damit zu tun, aber entscheidender noch war die Tatsache, dass sich während des Schlafs der seltsamste Umschwung in meinem Geist abgespielt hatte. Dies wurde mir fast im selben Augenblick klar, in dem ich die Augen öffnete: Es ließ mich mit einem Schwung aus dem Bett springen, wie ein Mann es tut, dem eingefallen ist, dass er die Haustür offengelassen hat oder noch eine Kerze unter einem Regalbrett brennt. Kam ich noch rechtzeitig genug, um meine Habseligkeiten zu retten? Diese Frage bohrte in meinem Herzen; denn was sich jetzt ereignet hatte, war das Folgende, das ich in der unbewussten Gehirntätigkeit des Schlafes mit einem Satz zu der leidenschaftlichen Wertschätzung von Julianas Kostbarkeiten zurückgekehrt war. Die Stücke, die sich in ihrem Besitz befanden, waren mir jetzt kostbarer als je zuvor, und mein Bedürfnis, sie in meinen Besitz zu bringen, zeigte sich mit nicht zu bändigender Heftigkeit. Die Bedingung, die Miss Tina an die Verwirklichung des Vorhabens geknüpft hatte, schien mir nicht länger ein Hindernis, über das es lange nachzudenken galt, und in den ersten Morgenstunden schob ich es mit Reue über mein bisheriges Verhalten erst einmal beiseite. Es war absurd, dass ich nicht in der Lage sein sollte, mir irgendetwas einfallen zu lassen; absurd, so leicht die Flinte ins Korn zu werfen und sich hilflos abzuwenden, entmutigt von der Vorstellung, dass die einzige Möglichkeit, in den Besitz der Papiere zu gelangen wäre, mich für mein ganzes Leben mit Miss Tina zu verbinden. Vielleicht musste ich mich nicht binden, könnte aber doch bekommen, was sie hatte. Ich muss hinzufügen, dass mir zu dem Zeitpunkt, als ich bei Miss Tina nachfragen ließ, ob sie mich empfangen würde, noch keine andere Lösung eingefallen war, und daher zog ich mein Ankleiden in die Länge, weil ich noch immer auf einen Geistesblitz hoffte. Diese Einfallslosigkeit war bedrückend, doch welche Alternative bot sich mir? Miss Tina ließ mich wissen, ich könne zu ihr kommen; und als ich die Treppe hinabstieg und durch den Empfangssaal zu ihrer Tür ging – diesmal empfing sie mich im verwaisten Salon ihrer Tante – hoffte ich, sie erwartete nicht, dass ich mit einer »günstigen« Antwort gekommen sei. Sie dürfte meine abweisende Reaktion vom Vortage verstanden haben.
Sobald ich das Zimmer betrat, wurde mir klar, dass es tatsächlich so war, aber ich bemerkte auch etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Das Gefühl des Scheiterns hatte in der armen Miss Tina eine seltsame Veränderung bewirkt, doch ich war zu sehr mit Kriegslisten und Beutezügen befasst gewesen, um so etwas in Betracht zu ziehen. Jetzt wurde ich es gewahr; ich vermag kaum zu sagen, wie sehr es mich überraschte. Sie stand in der Mitte
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