Die Aspern-Schriften (German Edition)
Neugierde, wie sie immer an den Freuden und Leiden ihrer Freunde Anteil nahm. Als wir dann aber in ihre Gondel stiegen und unter dem Sonnendach nebeneinander dahinglitten, durch das Schiebefenster zu beiden Seiten das strahlende Venedig als gerahmtes Bild im Blick, erkannte ich, wie sehr mein Eifer sie belustigte und dass sie mein Interesse an meiner in Aussicht stehenden Beute für einen vorbildlichen Fall von Monomanie hielt. »Man könnte meinen, Sie erhofften sich davon die Antwort auf das Geheimnis des Universums«, sagte sie. Ich hatte dieser Anschuldigung nur entgegenzuhalten, dass ich für den Fall, ich hätte zwischen dieser so erstrebenswerten Lösung und einem Bündel mit Jeffrey Asperns Briefen zu wählen, sehr wohl wüsste, welches für mich der größere Segen wäre. Sie nahm sich sogar heraus, seine Begabung unbedeutend zu nennen, und ich gab mir keinerlei Mühe, ihn zu verteidigen. Seinen Gott verteidigt man nicht: Jemandes Gott ist eine Verteidigung an sich. Darüber hinaus steht er heute, nachdem er vergleichsweise lange ein Schattendasein geführt hat, ganz hoch und für alle Welt sichtbar an unserem literarischen Himmel; er ist ein Teil des Lichts, in dem wir uns bewegen. Zu ihr sagte ich nur, dass er sicherlich kein Dichter für Frauen gewesen sei; worauf sie recht treffend zurückgab, dass er es zumindest für Miss Bordereau gewesen sei. Für mich war es eine unglaubliche Überraschung gewesen, in England herauszufinden, dass sie noch am Leben war: Es war, als hätte man mir eröffnet, Mrs. Siddons lebte noch, oder Königin Caroline oder die berühmte Lady Hamilton, denn es war mir so vorgekommen, als gehörte sie einer solchen ausgestorbenen Generation an. »Aber sie muss doch unglaublich alt sein – mindestens hundert«, hatte ich erwidert. Doch als ich die vorhandenen Daten in Augenschein nahm, sah ich es nicht als zwingend geboten an, dass sie die übliche Lebensspanne schon weit überschritten haben müsste. Sicherlich befand sie sich in einem ehrwürdigen Alter, und ihre Beziehung mit Jeffrey Aspern hatte sich in einer Zeit abgespielt, als sie eine junge Frau war. »Damit entschuldigt sie sich«, sagte Mrs. Prest ein wenig gouvernantenhaft und doch auch mit dem Unterton, als wäre sie beschämt, Worte im Munde zu führen, die so gar nicht zur Tonlage Venedigs passen wollten. Als brauchte eine Frau eine Entschuldigung dafür, den göttlichen Dichter geliebt zu habe n ! Er war nicht nur einer der glänzendsten Köpfe seiner Zeit gewesen – und in jenen Jahren, als das Jahrhundert noch jung war, hatte es, wie jedermann weiß, viele davon gegeben –, sondern auch einer der seelenvollsten und einer der bestaussehenden Männer.
Die Nichte verfügte Mrs. Prest zufolge über ein weniger ehrwürdiges Alter, und es wurde die Vermutung geäußert, dass sie eher eine Großnichte war. Durchaus möglich; ich hatte nichts weiter zur Verfügung als das äußerst begrenzte Wissen aus der Hand meines englischen Freundes John Cumnor, eines ebenso leidenschaftlichen Aspern-Verehrers wie ich, der die beiden Frauen nie zu Gesicht bekommen hatte. Die Welt hatte, wie ich zu sagen pflege, Jeffrey Aspern anerkannt, aber Cumnor und ich hatten ihn zutiefst erkannt. Heute strömt die Menge zu seinem Tempel, aber Cumnor und ich haben uns als Priester dieses Tempels berufen gefühlt. Wir halten uns zu Recht, wie ich meine, zugute, dass wir mehr für sein Andenken getan haben als jeder andere, und das einfach dadurch, dass wir Licht in sein Leben gebracht haben. Er hatte nichts von uns zu befürchten, weil er nichts von der Wahrheit zu befürchten hatte, die zu ergründen, aus einem solchen zeitlichen Abstand heraus, unser einziges Interesse sein konnte. Sein früher Tod war der einzige dunkle Fleck auf seinem Ruhm, so darf man sagen, es sei denn, die Schriften in Miss Bordereaus Besitz sollten widersinnigerweise etwas anderes ans Licht bringen. Um 1825 wurde die Vermutung geäußert, dass er »sie schlecht behandelt« habe, genauso wie ein Gerücht umging, er habe mehrere andere Damen auf dieselbe meisterliche Weise, wie es im Londoner Volksmund heißt, »bedient«. Cumnor und ich hatten alles darangesetzt, jedem dieser Fälle nachzugehen, und es war uns jedes Mal gelungen, ihn mit bestem Gewissen von jedem Vorwurf der Anstößigkeit freizusprechen. Vielleicht beurteilte ich ihn nachsichtiger als mein Freund; auf jeden Fall wiegte ich mich in der Gewissheit, dass kein Mann unter den gegebenen Umständen einen
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