Die Aspern-Schriften (German Edition)
tut. Ein weiteres Geheimnis wird der Erzählung hinzugefügt, denn gerade Giorgione, der 1478 in Castelfranco geboren wurde, dort lange lebte und mehrere Werke für den Ort schuf, gehört zu den großen Künstlern des Quattrocento, von denen wir fast nichts wissen, dem die meisten seiner Werke zugeschrieben aber nicht gesichert sind, und die gesicherten Werke, zum Beispiel das in Venedig befindliche Gewitter , können wir nicht recht deuten. In diesem Punkt ist eine Vergleichbarkeit mit Aspern gegeben: ein Künstler, von dem wir so gut wie nichts wissen, der aber als einer der größten aller Zeiten bezeichnet wird, mit Shakespeare soll er es aufnehmen, und von dem wir kein einziges Werk kennenlernen, wie von Giorgione kein einziges Werk genannt wird. Der Protagonist fährt dorthin und erfährt nichts. So wie er zu Juliana Bordereau fährt und nichts von ihr erfährt, weil sie ihre Geheimnisse für sich behalten will. James delegiert es an uns, dem Erzähler im Nachhinein mitzuteilen, was er dort gesehen haben könnte. Vielleicht hilft ihm das auf die Sprünge: Eines hat sich über den Künstler Giorgione ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben, dass er die Einheit von Mensch und Kosmos noch nicht in Frage stellte und seine Kunst aus jeder Zeitbezogenheit herausgehoben ist. Also ewi g ? Vielleicht ist es der Ewigkeitsgedanke der Kunst, der James hier bewegt hat, setzt man dies in Gegensatz zu jener anderen Äußerung in der Erzählung, in der er die Missachtung der Künstler in Amerika anprangert: Er legt Aspern jene Enttäuschung in den Mund, die sicherlich seine eigene gewesen ist, über die in seinem Heimatland, seinem wie Asperns, erfahrene Zurückweisung. Die Enttäuschung über mangelnde Anerkennung in seiner Heimat, die er als nackt, roh und provinziell bezeichnet, von der er sagt, dass die Literatur dort auf verlorenem Posten stände und Kunst und Gestaltung fast unmöglich wären. Was also könnte für den von seiner Untat verstörten Mann, den Erzähler, und für den Dichter in Castelfranco von Interesse sei n ? Zum einen gibt es dort einen herrlichen Fries der Artes Liberales in der Casa Marta-Pellizzari, der zu James’ Lebzeiten noch Giorgione zugeschrieben worden war. Dargestellt sind die sieben freien Künste, und in dieser allegorischen Darstellung der Kunst schlechthin muss man einen Selbstbezug der Hauptfigur wie auch des Autors sehen. Ebenso bildstark ist aber die Madonna mit Heiligen im Dom von Castelfranco, mit der Giorgione für James eine andere Allusion geschaffen hat: Die hoch oben auf einer Empore über einer Landschaft thronende Maria verkörpert hier die der Welt entrückte, erhabene, der göttlichen Sphäre angehörende Frau, eine Unerreichbare, Unberührbare – eine Frauengestalt, wie sie James’ Frauenbild in seiner Erzählung gleichkommt. Bezeichnenderweise befindet sich in Venedig eine weibliche Gestalt Giorgiones, ein Fresko, das so stark verwittert und abgeblättert ist, dass die außerordentliche Schönheit der Aktfigur nicht mehr zu erkennen ist, nur noch aufgrund einer Kopie zu ahnen. Warum sollte James seinen Helden ausgerechnet zu Giorgione schicken, wenn er nicht um diese Werke wüsste, nicht eine Intention dahinter stünde, der man nachsinnen soll, ein Geheimnis, dem man auf den Grund gehen mus s ? Das unaufgelöste Geheimnis ist ja Leitmotiv dieser Erzählung.
Soll heißen, jedem Hinweis muss nachgegangen werden. Es gibt ein weiteres Kunstwerk, sogar zwei, mit tiefergehender Bedeutung für die Erzählung, und dieses betrachtet der Erzähler mit wachem Blick und im Vollbesitz seines Hochmuts, er erwartet sogar Antwort von ihm. Es ist Andrea del Verrocchios (um 1435 – 1488) Reiterstandbild des für Venedig erfolgreichen Heerführers Bartolommeo Colleoni – das erste für die freie Aufstellung auf einem Platz allansichtig konzipierte Standbild der Renaissance, das 1495 vor der Kirche Santi Giovanni e Paolo aufgestellt wurde. Es wird in Beziehung gesetzt zu dem altrömischen Standbild des Marc Aurel vor dem Kapitol in Rom, dem einzigen vollständig erhaltenen Reiterstandbild der Antike, das den von der stoischen Philosophie geprägten römischen Kaiser (121 – 180) zu Pferde zeigt. Diese Werke erwähnt James, der ansonsten in seinem komprimierten Erzählstil mit jedem Wort geizt, sicherlich nicht ohne Hintersinn. Beide Standbilder haben Bezug zum Erzähler und seinem listenreichen Spiel, darum sucht er bei ihnen, dem Feldherrn und dem Stoiker, Rat für sein eigenes
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