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Die Attentaeterin

Die Attentaeterin

Titel: Die Attentaeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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herrschte als Patriarch über den Stamm. Er hatte Ländereien, aber keinerlei Ambition und wusste nicht, dass Langlebigkeit nichts mit Durchsetzungsfähigkeit zu tun hat, sondern viel mit der dauernden Infragestellung der eigenen Gewissheiten. Er starb, all seiner Habe beraubt, an gebrochenem Herzen, mit aufgerissenen Augen und zu Tode gekränkt. Mein Vater wollte seine Scheuklappen nicht erben. Das Bauernleben war nichts für ihn. Ein Künstler wollte er sein – was im Wortschatz der Altvordern so viel hieß wie ein Taugenichts, ein Herumtreiber. Ich erinnere mich noch an die denkwürdigen Schimpftiraden, die jedes Mal ausbrachen, wenn Großvater ihn wieder vor der Leinwand erwischte, in einer zum Malatelier umfunktionierten Baracke, während zur selben Stunde die anderen Familienmitglieder, groß und klein, in den Obstplantagen schufteten. Mein Vater entgegnete dann stets in stoischer Gelassenheit, dass das Leben mehr sei als Unkraut rupfen, Bäume beschneiden, Boden wässern und Obst ernten, dass auch das Malen, Singen und Schreiben zum Leben gehöre, ebenso wie das Unterrichten, und dass der allerschönste Berufe der Heilberuf sei. Ich sollte einmal Arzt werden – das war sein innigster Wunsch. Selten habe ich jemanden gesehen, der sich so für seinen Sprössling eingesetzt hat wie er. Ich war sein einziger Sohn. Wenn er keine weiteren Söhne wollte, dann deshalb, um alle Chancen mir zu geben. Er warf alles, was er besaß, in die Waagschale, um dem Stamm seinen ersten Chirurgen zu schenken. Als er mich meine Doktorurkunde schwenken sah, hat er sich in meine Arme gestürzt. An diesem Tag sah ich das erste und einzige Mal Tränen auf seiner Wange glänzen. Noch auf dem Sterbebett im Krankenhaus hat er, als wäre es eine heilige Reliquie, das Stethoskop gestreichelt, das ich mir, eigens um ihm eine Freude zu machen, um den Hals gehängt hatte.
    Mein Vater war ein guter Mensch. Er fand sich ab mit den Dingen, wie sie gerade kamen, und beklagte sich nie. Für ihn war ein Missgeschick kein Schicksalsschlag, sondern ein Zwischenfall, da musste man durch, auch wenn es im ersten Moment wehtat. Seine Klugheit, seine Demut waren wohltuend. Ich wollte ihm nacheifern, so werden wie er, wollte seine Genügsamkeit, seine Ausgeglichenheit haben! Ihm allein habe ich es zu verdanken, dass ich, obwohl ich in einer Gegend aufwuchs, wo seit Menschengedenken Aufruhr herrscht, mich weigerte, die Welt als Arena zu betrachten. Ich sah, wie ein Krieg dem anderen folgte, ein Rachefeldzug dem anderen, doch ich verbot es mir, dies mit welcher Begründung auch immer gutzuheißen. Ich glaubte den Propheten der Zwietracht nicht und mochte mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, Gott könne seine Geschöpfe ermuntern, sich gegeneinander zu erheben und die Ausübung ihres Glaubens auf die absurde und fürchterliche Frage des Kräfteverhältnisses zu reduzieren. Und so hütete ich mich fortan wie vor der Pest vor allem, was nach meinem Blut verlangte, um meine Seele zu läutern. Ich mochte weder ans Tal der Tränen noch ans Tal der Finsternis glauben – es gab verlockendere und sehr viel weniger abwegige Aufenthaltsorte ringsum. Mein Vater pflegte zu sagen: »Wenn dir einer erzählt, dass es eine erhabenere Symphonie gibt als den Atem, der dich belebt, dann belügt er dich. Er will dir das Schönste nehmen, was du hast: die Chance, jeden Augenblick deines Lebens auszukosten. Wenn du vom Prinzip ausgehst, dass derjenige dein schlimmster Feind ist, der Hass in dein Herz zu säen versucht, dann hast du schon das halbe Glück gewonnen. Nach dem Rest musst du dann nur noch die Hand ausstrecken. Und erinnere dich immer daran: Es gibt nichts, absolut nichts, was über deinem Leben steht … Und dein Leben steht nicht über dem der anderen .«
    Ich habe es nicht vergessen.
    Ich habe es sogar zu meinem Lebensmotto gemacht, überzeugt davon, dass die Menschheit, wenn sie sich diese Logik zu eigen machen würde, endlich im Stadium der Reife ankäme.

    Meine kleinen Wortgefechte mit Naveed haben mich wieder auf die Beine gebracht. Meine Wahrnehmung ist zwar noch lange nicht die alte, doch es hat mir erlaubt, mich selbst mit ein wenig Distanz zu betrachten. Die Wut ist noch immer da, aber sie tobt nicht mehr in mir wie ein Fremdkörper, der nur auf einen Anreiz wartet, um hervorzukommen. Ich setze mich mittlerweile schon mal auf den Balkon und schaue, nicht uninteressiert, den vorüberfahrenden Autos nach. Kim kontrolliert, wenn sie mit mir redet, ihre

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