Die Attentaeterin
Laune, die einmal hier herrschte, hatte einer tödlichen Stimmung Platz gemacht.
»Und das ist noch gar nichts«, sagt Jamil, als würde er in meinen Gedanken lesen. »Im Vergleich zu dem, was hier abgeht, ist die Hölle das reinste Hospiz .«
Dabei habe ich so einiges gesehen, seit ich jenseits der Mauer bin: Dörfer im Belagerungszustand, Checkpoints an jeder Straßenabzweigung, Straßen gesäumt von zerschossenen und ausgebrannten Fahrzeugen, endlose Schlangen von Verdammten, die darauf warten, bis sie an der Reihe sind, kontrolliert, grob behandelt und häufig dann doch nicht durchgelassen zu werden, milchbärtige Uniformen, halbe Kindersoldaten, die die Geduld verlieren und blindlings drauflosschlagen; protestierende Frauen, die den Hieben der Gewehrkolben nichts als ihre schwieligen Hände entgegenzusetzen haben; Jeeps, die in den Ebenen patrouillieren, andere, die jüdischen Siedlern Geleitschutz geben, die sich zu ihren Arbeitsplätzen bewegen wie durch ein Minenfeld …
»Vor einer Woche«, fügt Jamil hinzu, »war das hier das Ende der Welt. Hast du schon mal Panzer gesehen, die auf Steinschleudern schießen, Amin? Nun, in Dschenin haben die Panzer das Feuer auf Jungen eröffnet, von denen sie mit Steinen beworfen wurden. Goliath hat David an jeder Straßenecke in Grund und Boden gestampft .«
Ich hatte nicht im Traum geahnt, dass der Verfall derart fortgeschritten, dass es um die Hoffnung so schlecht bestellt ist. Ich wusste um die Feindseligkeiten, die das menschliche Klima beidseits vereisten, von der Sturheit, mit der die Kriegsparteien sich weigerten, eine Verständigung zu erreichen, und nichts gelten ließen außer ihrem mörderischen Vergeltungsdrang; aber das Unerträgliche mit eigenen Augen zu sehen, das erschüttert mich. In Tel Aviv lebte ich auf einem anderen Planeten. Meine Scheuklappen hielten das Wesentliche des Dramas, das mein Land zerfrisst, vor mir verborgen; die Ehrenbezeugungen, die man mir zukommen ließ, kaschierten das wahre Ausmaß des Grauens, das dabei war, das gesegnete Land Gottes in ein chaotisches Mülldepot zu verwandeln, wo die Grundwerte der Menschlichkeit ausgeweidet vermodern, wo der Weihrauch so übel riecht wie die hohlen Verheißungen und wo der Geist der Propheten sein Gesicht verhüllt bei jedem Gebet, das vom Klicken der Gewehre und vom Gebrüll der Befehle übertönt wird.
»Weiter können wir nicht fahren«, warnt mich Jamil.
»Wir sind so gut wie auf der Demarkationslinie. Von dem zerstörten Patio an, da vorne links, zischen dir die Kugeln um die Ohren .«
Er zeigt mit der Hand auf einen Haufen rußgeschwärzten Schotters. »Letzten Freitag hat der Islamische Dschihad zwei Verräter exekutiert. Da drüben hat man ihre Leichen deponiert. Sie waren aufgequollen wie Luftballons .«
Ich sehe mich um. Das Viertel wird evakuiert. Nur ein ausländisches Fernsehteam ist gerade dabei, unter dem Schutz bewaffneter Führer die Trümmer zu filmen. Ein Geländewagen taucht plötzlich auf, voller steil aufragender Kalaschnikows, rast geradeaus und verschwindet unter furchtbarem Reifenquietschen in einer Kurve. Die Staubwolke, die er aufwirbelt, braucht lange, bis sie sich verzogen hat.
Ganz in der Nähe knallen Schüsse, dann herrscht wieder eine tödliche Stille.
Jamil fährt im Rückwärtsgang bis zu einem Verkehrskreisel, wirft einen prüfenden Blick in eine Seitenstraße, die wie ausgestorben daliegt, überlegt und beschließt, kein überflüssiges Risiko einzugehen.
»Das ist kein gutes Zeichen«, sagt er, »das ist wirklich nicht gut. Ich sehe nicht einen Kämpfer von den Al-Aksa-Brigaden. Normalerweise sind hier immer drei oder vier Leute, die einem Auskunft geben. Wenn hier kein Mensch ist, dann deshalb, weil irgendwo in der Nähe ein Hinterhalt ist .«
»Wo wohnt dein Bruder denn ?«
»Nur einen Katzensprung von der Moschee da entfernt. Siehst du die Dachgerippe rechts? Es ist gleich dahinter. Aber um dorthin zu kommen, muss man das ganze Viertel durchqueren, und es ist gespickt mit Heckenschützen. Das Schlimmste haben wir hinter uns, aber es ist noch immer ziemlich viel Blei in der Luft. Scharons Soldaten haben einen großen Teil der Stadt besetzt und die wichtigsten Zufahrtsstraßen abgeriegelt. Die werden uns nicht einmal in ihre Nähe lassen, wegen der Autobomben. Und unsere eigenen Milizen sind hochgradig nervös und schießen schon los, bevor sie nach deinen Papieren fragen. Wir haben einen schlechten Tag erwischt, um Khalil zu besuchen
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