Die Augen der Medusa
Marisa auf den Erdhaufen und legte ihr zögernd den Arm um die Schulter. Die anderenstanden herum. In dem Raum lagerte von Vorhangstangen über übrig gebliebene Badezimmerfliesen bis hin zu einem alten Pferdegeschirr alles Mögliche, was die Sgreccias mal aussortiert, aber zum Wegwerfen als zu schade erachtet hatten. Sitzgelegenheiten gab es keine. Man hatte sie bisher nicht vermisst, da jeder genug zu tun gehabt hatte. Nun fragte man sich, ob die ganze Buddelei nicht völlig sinnlos gewesen war.
»Minh ist nicht tot«, sagte Matteo Vannoni so ruhig, wie er schon seit vielen Stunden nicht mehr gesprochen hatte. »Ich bin ganz sicher. Ich spüre sogar, dass er genau in diesem Moment an uns denkt. Er weiß, dass wir ihn nicht aufgegeben haben, und hofft, dass uns irgendetwas Schlaues einfällt. Und deswegen brechen wir jetzt die Kellermauer durch!«
Vannoni zeigte auf den Tunneleingang. Nicht einmal die beiden Schwarzafrikaner rührten sich.
»Mach dir doch nichts vor, Matteo!«, sagte Ivan Garzone. Vielleicht sollten sie wirklich nach Hause gehen, bevor die Sperrstunde begann. Sie würden sich vor den Fernseher setzen und zusehen, wie alles in Blut und Feuer endete.
»Ich glaube, Matteo hat recht«, sagte Antonietta. »Wir sollten nicht vergessen, dass jedermann denkt, Minh sei der Geiselnehmer. Und dass der wirkliche Täter alles tut, damit das so bleibt. Habt ihr euch mal gefragt, warum?«
»Um Verwirrung zu stiften«, sagte Ivan.
»Nein, weil auch er nicht sterben will, und dazu braucht er Minh lebend. Sein ganzer Plan hängt davon ab. Nehmen wir mal an, er hat seine anderen Geiseln schon alle umgebracht. Nur noch er und Minh sind übrig, wenn die Sondereinheit das Büro stürmt. Alles wird blitzschnell gehen. Fenster werden bersten, Türen gesprengt, nervöse Polizisten werden mit dem Finger am Abzug und in der festen Überzeugung eindringen, dass Minh ein brandgefährlicher Verbrecher sei, der schon mehrere Menschen auf dem Gewissen hat. Wenn in diesem Chaos eine angstverzerrteStimme brüllt, dort im Eck stehe der Mörder mit einer Waffe im Anschlag, und wenn ein Scheinwerferkegel Minh erfasst, der ›nein!‹ schreit und nur kurz zuckt, vielleicht weil er die Hände nach oben strecken will, was werden die Agenten dann tun? Sie werden schießen, ohne zu zögern. Nicht einer von ihnen, sondern drei, vier, fünf. Nicht einmal, sondern so lange, bis Minh tot am Boden liegt. Der wahre Täter wartet, bis alles vorbei ist, kriecht unter dem Schreibtisch hervor, bedankt sich bei den Polizisten, dass sie ihm das Leben gerettet hätten, und erzählt ihnen irgendeine Geschichte, wie er am Tag des Anschlags in Minhs Gewalt geraten sei. Als einziger Überlebender des Dramas wird er vor der Polizei und in allen Medien bezeugen, dass Minh die anderen Geiseln brutal umgebracht hat. Vielleicht findet sich sogar irgendwo auf dem Fußboden eine leer geschossene Pistole mit Minhs Fingerabdrücken darauf. Zweifeln wird jedenfalls niemand.«
Die anderen sahen sich an. Der Täter wollte einfach die Rollen tauschen. Er würde zur glücklich geretteten Geisel werden, und die Geisel zum Täter. Zu genau dem Täter, den sowieso alle auf der Rechnung hatten. Selbst wenn der Junge die Schießerei überlebte, stünde Aussage gegen Aussage, und der Killer hätte eine gute Chance, mit seiner Version durchzukommen. Aber Minh würde nicht überleben. Die Mitglieder der Spezialeinheit hatten einen Angriff abbrechen und tagelang untätig herumsitzen müssen. Sie standen unter Strom, sie wussten, dass es tödlich sein konnte, im falschen Moment einen Sekundenbruchteil zu zaudern. Sie würden erst schießen und dann fragen.
»Aber das hieße ja«, sagte Angelo Sgreccia, »dass der Killer den Sturmangriff unbedingt braucht. Er muss die Lage zuspitzen, bis die Einsatzleitung nicht mehr anders kann, als die Männer des NOCS einzusetzen.«
Donato nickte. »Nur darum ging es die ganzen Tage, nicht um die Freipressung der Brigadisten. Der Killer wollte gar nicht, dass seine Forderung erfüllt wird. Er hat sie mitAbsicht so gestellt, dass der Staat nicht ernsthaft darauf eingehen kann.«
»Man müsste nur dafür sorgen, dass sie nicht angreifen. Dann würde Minh nichts geschehen«, sagte Angelo.
»Wer soll den Krisenstab davon überzeugen? Wir etwa?«, fragte Franco. »Du hast nicht erlebt, wie uns der Questore das erste Mal abgefertigt hat.«
»Und nun?«, fragte Elena Sgreccia.
»Wir brechen in Salviatis Keller durch!«, sagte
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