Die Augen der Medusa
wusste keine andere Lösung. All ihre Bemühungen, an Vannoni heranzukommen, waren vergeblich gewesen. Es schien, als habe ihn der Winterwind aus einer anderen Welt hereingeweht, so fremd, dass einen dabei unwillkürlich fröstelte. Antonietta versuchte sich Momente zu vergegenwärtigen, in denen sie sich bei ihm aufgehoben gefühlt und eine ganz selbstverständliche Vertrautheit genossen hatte. Doch die Erinnerungen blieben leblos. So ungerecht das Vannoni gegenüber auch sein mochte, Antonietta wäre es unangenehm gewesen, jetzt mit ihm allein zu sein. Seine Anspannung, seine Besessenheit strahlten aus und schienen den Kellerraum mit einer bösen Energie aufzuladen. Dass es nicht noch schlimmer war, verdankte man Francos unentwegtem Geplapper. Seine Geschichten von Gott und der Welt, zusammengestückelt aus selbst Erlebtem, irgendwo Aufgeschnapptem und frei Erfundenem, mochten manchmal nerven, wirkten gleichzeitig aber wie ein Gegengift zu Vannonis nervöser Düsternis.
Vom Lob der Ingenieurskunst war Franco inzwischen zu den Wundern der Tierwelt vorangeschritten. Er erläuterte gerade, dass der Dachs seinen Bau nicht mehr benütze, wenn zum Beispiel ein Stachelschwein nur ein einziges Mal hineingegangen sei, als die beiden Schwarzafrikaner erdverkrustet aus dem Tunnel krochen. Sie standen auf, streckten sich und warfen Spaten und Schaufel auf den Erdhaufen.
»Was ist los?«, fragte Matteo Vannoni.
»Wir sind an der Kellermauer.«
»Durchbrechen!«, befahl Vannoni.
»Wir brauchen anderes Werkzeug«, sagte einer der Afrikaner.
Franco knipste seine Taschenlampe an, und die Dorfbewohner schauten einer nach dem anderen in die Tunnelöffnung. Die Mauer war schon ganz freigelegt. Die geschichteten Bruchsteine, die den Gang versperrten, ließen an die Wehranlage einer längst untergegangenen Stadtdenken. Schon damals hatten ihre Befestigungen sie nicht vor der Zerstörung bewahren können. Jetzt würden sie noch einmal erstürmt werden.
»Ohne Lärm wird das nicht gehen«, sagte Ivan Garzone.
»Keinesfalls«, sagte Donato.
»Adriano Celentano?«, fragte Mamadou.
»Natürlich! Den habe ich schon Ewigkeiten nicht mehr gehört.« Franco nickte begeistert.
Marta Garzone schüttelte den Kopf. »Unmöglich! Wir sind tief in der Sperrzone. Wenn da ein CD-Player losdröhnt …«
»Ich wette, dass es da drüben von Agenten der Sondereinheit wimmelt«, sagte Antonietta.
»Wenn sie ein Haus, das direkt an Minhs Büro grenzt, nicht besetzen, wären sie schön blöd«, sagte Angelo Sgreccia.
»Durchbrechen!«, wiederholte Vannoni. Seine Augen glänzten fiebrig.
Der eine Afrikaner zuckte die Achseln. Er griff zu Hammer und Meißel.
»Warte!«, befahl Mamadou.
»Wir haben doch keine andere Wahl«, begehrte Vannoni auf. »Soll denn alles umsonst gewesen sein, nur weil vielleicht …?«
»Still!«, zischte Mamadou. Er zeigte mit dem Finger nach oben. War da nicht ein Geräusch gewesen? Milena befand sich mit den Kindern zwei Häuser weiter. Sie sollte bei Gefahr warnen, aber Martas Handy auf der Werkzeugkiste blieb stumm. Dennoch, da war jemand. Man hörte jetzt deutlich die Schritte auf dem Steinfußboden von Sgreccias Erdgeschoss. Sie näherten sich dem Kellerabgang, und schon tauchten zwei Beine auf der obersten Treppenstufe auf.
»Marisa?«, fragte Donato. Seine Stimme klang verlegen. So, als hätte ihn seine Frau bei etwas Peinlichem ertappt.
Als Marisa Curzio bei den Angiolinis geklopft hatte, war noch alles klar gewesen. Es musste eben sein. Auch als sie durch den Kleiderschrank ins Haus der Deutschen gestiegen und nach der nächsten Bresche in Sgreccias Küche angelangt war, hatte sich daran nichts geändert. Sie war fest entschlossen gewesen, es sofort hinter sich zu bringen. Für Erklärungen war dann immer noch Zeit. Und vorher hilflos herumzudrucksen würde alles nur schlimmer machen. Wie sollte man schonend auf solch eine Nachricht vorbereiten? Sich hinstellen und darum bitten, dass jetzt alle stark sein müssten? Nein, das ging nicht, das ging überhaupt nicht. Da hätte sich Marisa eher die Zunge abgebissen. Es musste heraus. Gleich. Nicht einmal grüßen durfte sie vorher. Selbst als sie die Stufen hinabgestiegen war, hatte sie noch gedacht, dass es ja nur drei kurze Worte waren. Minh ist tot. Sie würde doch drei Worte herausbringen. Sie musste es einfach schaffen. Deswegen war sie schließlich gekommen.
Jetzt stand Marisa am Fuß der Kellertreppe, starrte auf den Erdhaufen, der wie ein
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