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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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überdimensionales, frisch zugeschaufeltes Grab aussah, drei Worte nur, und dann blickte sie in die Gesichter um sie herum, Angelos, Martas, Donatos, Matteo Vannonis, sie mussten es ihr doch ansehen, Herr im Himmel, sie mussten es doch begreifen, auch ohne dass sie es aussprach, und auf dem Grab lagen keine Blumen, keine Kränze, sondern ein Spaten, der vermuten ließ, dass der Totengräber gleich zurückkäme, um seine Arbeit fertigzustellen, obwohl der Erdhaufen bereits höher war als üblich, viel höher sogar, als befürchte man, der Tote könne versuchen, sich wieder herauszugraben, nur drei kleine Worte wie zum Beispiel »ein frisches Grab« oder »ich sage es«, und dann hätte Marisa es hinter sich, endlich, aber nur, wenn sie jetzt den Mund aufmachte. Jetzt. Sofort. Sie sagte: »Es gibt noch ein paar Unklarheiten, aber im Großen und Ganzen weiß ich, wie die Sache mit Malavoglia abgelaufen ist.«Marisa redete wie ein Buch und schien dabei kaum Luft zu holen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die anderen in ihrer Darstellung der Operation Medusa zurechtfanden. Eine groß angelegte Verschwörung, die von einem Maulwurf in der Staatsanwaltschaft Rom ausging, der wiederum entweder den Roten Brigaden oder einer Bande korrupter Politiker zuarbeitete – das war starker Tobak. Doch Marisas Argumente klangen überzeugend, und allmählich gewöhnte man sich an den Gedanken. Trotzdem war jedem klar, dass man damit nicht in die Öffentlichkeit gehen konnte, wollte man nicht mindestens für unzurechnungsfähig erklärt werden.
    Marisas Gedankengebäude stand und fiel mit der Rolle, die Minh in dem Fall spielte. Dass er mit Attentat und Geiselnahme nichts zu tun hatte, war gerade das, was die Dorfbewohner überzeugte. Daran hatten sie ja nie geglaubt. Für den Rest der Welt traf genau das Gegenteil zu. Innerhalb von Politik und Medien mochte man vielleicht über Ursachen und Konsequenzen dieser Kapitalverbrechen unterschiedlicher Meinung sein, doch niemand zweifelte daran, dass Minh sie geplant und durchgeführt hatte. Deshalb hatte keiner der sonst so findigen Journalisten überhaupt nach einer Verschwörung gesucht. Es hatte einer Hausfrau aus Montesecco bedurft, um sie aufzudecken. Und Marisa war dazu in der Lage gewesen, weil sie sich entgegen allem Augenschein auf das verlassen hatte, was sie wusste. Dass Minh so etwas nie tun würde, weil er sich nicht für Politik interessierte, weil er keinen Schinken aß, weil er nicht auf seine Mutter schießen würde, weil, weil, weil. Vor allem aber, weil er ein guter Junge war, den sie alle seit siebzehn Jahren kannten.
    »Wenn wir wüssten, was Minh entdeckt hat, könnten wir vielleicht auch die Polizei überzeugen«, sagte Ivan Garzone. »Zumindest, wenn wir die Beweise fänden.«
    »Die sind von den Killern sicher längst vernichtet worden«, sagte Marisa.
    »Und was ist mit Minh?«, fragte Ivan.
    »Mit Minh?«, fragte Marisa zurück. Plötzlich klang ihre Stimme unsicher.
    »Na, er weiß doch alles!«
    »Ja«, sagte Marisa, »er könnte natürlich als Zeuge auftreten, doch ob ihm außer uns jemand …«
    »Aber dann ist er doch eine Gefahr für die Attentäter«, sagte Ivan.
    Marisa setzte sich auf den Erdhaufen. Den dicken Lexikonband, den sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, legte sie neben sich. Sie sagte: »Deswegen halten sie ihn ja als Geisel fest.«
    »Wenn sie ihn nicht schon umgebracht haben«, sagte Ivan.
    »Was redest du da?«, fragte Marisa schwach.
    »Sie können es sich nicht leisten, ihn am Leben zu lassen«, sagte Ivan, »und Malavoglia haben sie ja auch skrupellos ermordet.«
    »Aber Minh ist fast noch ein Kind!« Marisas Stimme war kaum mehr zu verstehen. »Würdest du denn ein Kind …? Einfach so?«
    Ivan sagte: »Ich frage mich, warum sie Ispettore Russos Leiche nicht nach draußen geschafft haben. Und wieso sie ihn überhaupt als erstes Opfer auswählen sollten, wenn sie jemanden in ihrer Gewalt haben, der unter keinen Umständen davonkommen darf.«
    »Ich weiß nicht«, stöhnte Marisa. »Ich habe keine Ahnung. Vielleicht stimmt ja nichts von dem, was ich euch erzählt habe. Vielleicht sollten wir jetzt nach Hause gehen, uns ins Bett legen und schlafen, bis alles vorbei ist. Bis sich herausstellt, dass wir nur schlecht geträumt haben.«
    Marisa schlug die Hände vors Gesicht. Die Taschenlampen waren ausgeschaltet worden. In Sgreccias Keller brannte nur eine Sparlampe, die unangenehm weißes Licht aussandte. Donato setzte sich neben

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