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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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vergangenen Nächten hatte Munì immer wieder von seiner Begegnung mit der Alten geträumt. Meist nur Bruchstücke, kurze Momente, die er aber umso eindringlicher noch einmal zu durchleben glaubte. Er hatte im Traum ihre kalte, faltige Haut gespürt, ihren leicht ranzigen Körpergeruch in der Nase gehabt, er hatte sie ihre verfluchten Augen aufreißen sehen und die Gehstockspitze auf die Pflastersteine schlagen hören. Tok, tok, tok. Natürlich würde er niemandem davon erzählen. Er hatte hart dafür gearbeitet, in den NOCS aufgenommen zu werden. Wäre er im Auswahlverfahren gescheitert, hätte er das akzeptieren müssen, aber er hatte sich als gut genug erwiesen. Als einer der Besten. Und genau das blieb er, auch wenn er mal schlecht träumte. Punktum!
    Tok, tok, tok! Selbst jetzt klang das Geräusch in seinen Ohren nach. Munì befahl sich, es zu überhören. Er durfte sich nicht so viel mit sich selbst beschäftigen, schließlich hatte er eine Aufgabe zu erfüllen. Sobald er seine Kameraden gefährdete, weil er nicht wie ein Uhrwerk funktionierte, wäre unwiderruflich Schluss! Dann bliebe ihm nur, um einen Schreibtischstuhl zu betteln, den er die nächsten fünfunddreißig Jahre breitsitzen durfte. Tok, tok, tok, machte es in Munìs Kopf. Verdammt, was war los mit ihm? Begann er etwa zu halluzinieren?
    Munì stellte die Maschinenpistole vorsichtig neben sich ab, presste beide Hände auf die Ohren und konzentrierte sich. Nichts. Stille. Der dumpfe Ton war verschwunden. Munì atmete durch. Na also, es ging doch! Er halluzinierte nicht, er war völlig auf der Höhe, er …
    Aber wenn das Geräusch nicht in seinem Kopf entstanden war, dann musste es …!
    Munìs Hände fuhren nach unten. Noch bevor er das nächste Tok hörte, hatten sie schon mit hundertfach geübten Bewegungen die Maschinenpistole ergriffen, entsichert, in Anschlag gebracht. Sicut nox silentes! Munì richtete sich geräuschlos auf und schmiegte sich gegen die Wand. Die Haustür unten war geschlossen. Das Dämmerlicht, das durch die Scheibe drang, reichte völlig aus, um zu erkennen, dass sich niemand im Flur oder auf der Treppe befand. Vorsichtig, Stufe für Stufe, schlich Munì hinab. Neben der Haustür blieb er stehen. Er sicherte, er lauschte.
    Der Flur war L-förmig geschnitten. Geradeaus ging es in die ehemaligen Wohnräume, doch das Geräusch kam von rechts. Munì folgte ihm, schob sich um die Ecke, tastete sich langsam an der Wand voran. Da war die Tür, hinter der die Treppe weiter nach unten führte. Munì und Nummer 3 hatten den Keller durchsucht, als ihre Gruppe hier eingerückt war. Sie hatten nur ein wenig Gerümpel gefunden, das von einer Staubschicht überzogen war. Seit Jahren hatte sich dort niemand mehr aufgehalten.
    Munì presste das Ohr an die Kellertür. Tok, tok, tok. Das Geräusch kam zweifelsfrei von da unten. Es klang nun nicht mehr nach einem Gehstock, der auf Stein aufgesetzt wird. Es klang härter, gewaltsamer. So, als ob Metall auf Metall schlüge. Ein schwerer Hammer auf einen Meißel zum Beispiel. Und dazwischen, leiser, hörte Munì mal ein Splittern, mal ein dumpfes Poltern, wie wenn ein großer Bruchstein zu Boden fällt.
    Munì strich über den Kolben seiner Maschinenpistole. Sie hatten ihn aus der Aktion heraushalten wollen, doch jetzt war er in vorderster Linie dabei. Es fiel schwer, das nicht als Wink des Schicksals zu betrachten. Munì traute sich zu, mit dieser Sache allein fertig zu werden. Wenn er leise die Kellertür öffnete, hinabstieg, geduldig wartete, bis das Loch groß genug war, und dann mit der Waffe im Anschlag …
    Unsinn! Munì durfte sich keinen Fehler mehr erlauben. Alleingänge waren unter allen Umständen zu unterlassen. Wer Rambo spielen will, soll sich in Hollywood bewerben, hatte einer der Ausbilder in Abbasanta gesagt. Munì drehte sich von der Tür weg und flüsterte ins Mikrofon seines Headsets: »Nummer 4 an Nummer 1: Klar identifizierbare Geräusche aus dem Keller. Der Geiselnehmer durchbricht gerade die Mauer zu uns herüber. Erbitte Anweisungen.«
    Einen Moment lang geschah nichts. Dann sagte die Stimme von Nummer 1: »Wiederholen Sie, Nummer 4!«
    Munì wiederholte.
    »Bleiben Sie, wo Sie sind!«, sagte Nummer 1. »Wir sind so gut wie da.«
    Munì nickte. Sie würden den durchgedrehten Terroristenjungen ausschalten, und er würde hier oben die Nachhut spielen dürfen. Er würde durch das Milchglas der Haustür nach draußen starren und sich fragen, warum zum Teufel er nicht in der

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