Die Augen der Medusa
was noch alles. Man konnte doch nicht warten, bis sie ihre ganze Artillerie in Stellung gebracht hatten!
»Unser Befehl ist eindeutig«, zischte Nummer 1. »Wir warten.«
Klar, sie würden warten, bis eine Vierzig-Millimeter-Granate die Kellertür zerfetzte und sie alle pulverisierte. Hatte Munì nicht gelernt, dass man sich das Gesetz des Handelns nicht vom Gegner diktieren ließ? Dass man das Überraschungsmoment nutzte, wann immer es möglich war? Was wussten denn die in der Einsatzleitung schon? Die saßen in sicherer Entfernung und drehten Däumchen. Warten! Die machten es sich einfach. Und wenn sie lange genug gewartet hatten, würden sie eine Putzfrau herschicken, um die verkohlten Reste dessen zusammenzukehren, was einmal die Einsatzgruppe 1 des NOCS gewesen war.
»Das Überraschungsmoment …«, flüsterte Munì.
»Schluss jetzt, Nummer 4!«
»Wir haben Ermessensspielraum«, raunte Munì. Er zitierte auswendig aus den Richtlinien: »Wenn unvorhersehbare Entwicklungen vor Ort die Grundlagen einer Einsatzplanung in Frage stellen, kann es gerechtfertigt sein, auch gegen erteilte Befehle zu handeln, soweit und nur in dem Maß, wie das übergeordnete Ziel der Operation …«
Nummer 1 hob seine Maschinenpistole an und drückte die Mündung gegen Munìs Hals. An die ungeschützte Stelle zwischen Helm und Panzerweste. Nummer 1 flüsterte: »Die Waffe auf den Boden! Ganz langsam, und nur mit der linken Hand!«
»Aber …«, sagte Munì.
»Du bist raus, Nummer 4«, sagte Nummer 1.
Munì rührte sich nicht. Er spürte den Lauf der Maschinenpistole neben seinem Kehlkopf, doch er wusste, dass das nicht ernst gemeint war. Ein paar Meter unter ihnen hielten sich bewaffnete Terroristen auf, die nichts von ihrer Anwesenheit ahnten. Nummer 1 konnte gar nicht abdrücken, selbst wenn er gewollt hätte. Aber wieso sollte er das wollen? Sie beide gehörten dem NOCS an, derselben Einsatzgruppe noch dazu, sie waren Kameraden, sie würden füreinander durchs Feuer gehen, sie …
»Wird’s bald?«, sagte Nummer 1.
Es ist nur ein Scherz, dachte Munì, so wie damals, als sie ihm Erdbeermarmelade auf den Pistolengriff geschmiert hatten und sich vor Lachen nicht mehr halten konnten, weil er die ersten beiden Schüsse neben die Scheibe gesetzt hatte. Es musste ja auch zu komisch ausgesehen haben, wie das klebrige rote Zeug zwischen seinen Fingern herausgequollen war. Fast so, als presse jemand ein Herz aus. Munì murmelte: »Ich meinte bloß, dass wir der Einsatzleitung noch einmal darlegen sollten …«
»Die Waffe runter!«, zischte Nummer 1. »Und dann gehst du die Treppe hoch, setzt dich in eine Ecke und rührst dich nicht von der Stelle, bis ich es dir sage!«
Munìs Hand krampfte sich um die Maschinenpistole. Erst jetzt begriff er, dass es vorbei war. Und wenn er dem Innenminister persönlich das Leben rettete, sie würden ihn trotzdem aus der Truppe werfen, sobald die Aktion hier abgeschlossen war. Vielleicht würden sie ihm die Chance geben, selbst um sein Ausscheiden aus dem Dienst nachzusuchen, aber was änderte das schon? Er wäre kein Mitglied des NOCS mehr. Munì sah zu Nummer 2, zu Nummer 3 hin und wusste, dass er jetzt schon nicht mehr dazugehörte. Die Lernerei, das Training, die Prüfungen, alles war umsonst gewesen. Das Leben, das er sich mit jahrelangem verbissenem Einsatz aufgebaut hatte, stürzte zusammen wie ein Kartenhaus.
Munì hob die rechte Hand auf Schulterhöhe, ging langsam, ganz langsam in die Knie und legte mit der linken Hand die Maschinenpistole vor sich ab. Dann richtete er sich wieder auf. Er starrte nach unten. Die Waffe lag auf dem Boden. Es war ihr egal, wer sie getragen hatte und ob sie gleich irgendein anderer aufnehmen würde. So war es eben, auch wenn Munì sich gewünscht hätte, dass sie von sich aus eine Salve abgefeuert hätte, sobald er die Finger von ihr gelöst hatte. Es durfte doch nicht alles einfach weitergehen! So, als sei nichts passiert!
Munì wunderte sich nicht, als plötzlich der Krach einer gewaltigen Explosion in seine Ohren schlug. Er spürte die Detonationswellen durch die Steinplatten unter seinen Füßen laufen, sah, wie sich Nummer 1 zu Boden warf, wie Nummer 2 Richtung Haustür robbte, er hörte den Questore aus dem Headset brüllen, was zum Teufel da los sei, und er selbst blieb ruhig und unbeweglich stehen. Alles war völlig normal. Wenn eine Welt zersprang, brauchte es niemanden zu wundern, dass es dabei Getöse gab.
Der Knall war laut. Ziemlich laut.
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