Die Augen der Medusa
wackeligen Kleinkindergang, der seine Mutter bei jedem Schritt einen Sturz befürchten ließ. Erst Jahre später jedoch verletzte sich Minh einmal ernstlich, als er nach einer Vollbremsung über den Lenker seines Fahrrads flog. Das Blut lief ihm herab, die Platzwunde an der Stirn musste mit vier Stichen genäht werden.
Ein anderes Bild schob sich darüber. Der siebenjährige Minh saß am Fuß des Mäuerchens, die Beine übereinandergeschlagen und den Blick fest auf einen grünen Papierdrachen gerichtet, der vor ihm auf den Pflastersteinen lag. Eine sanfte Brise wehte von den Bergen herab, gerade stark genug, um die Bespannung des Drachens leicht zittern zu lassen. Niemand anderer befand sich auf der Piazza, nur ein dunkles Lachen drang aus irgendeinem Fenster, und plötzlich wurde Catias Gefühl von damals wieder lebendig.
Denn obwohl eigentlich gar nichts passiert war, hatte sie, als die Dämmerung über den reglosen Minh hereingebrochen war, gespürt, nein, gewusst, dass sie und ihr Sohn Montesecco verlassen sollten. Voll unerklärlicher Angst war sie zu ihm gelaufen und hatte ihn ins Haus geholt. Sie hatte schon begonnen, die Koffer zu packen, doch am nächsten Morgen waren die Schatten verflogen, und sie selbst hatte nur den Kopf darüber geschüttelt, wie sie zu so einem lächerlichen Entschluss hatte kommen können. Sie waren geblieben.
Genau dort drüben hatte Minh gesessen. Es war ein warmer Spätsommerabend gewesen. Damals. Jetzt knirschte unter Catias Sohlen der Schnee. Es klang fast so, als ob er sich ächzend über etwas beklagen wollte. Vielleicht, weil er über kurz oder lang schmelzen würde? Catia konntesich schwer vorstellen, dass hier irgendwann wieder glühende Hitze aus dem Pflaster steigen sollte. Sie blieb stehen.
Nach Westen zu schloss der Palazzo Civico die Piazza ab. In der Luke des Türmchens saßen zwei Tauben dicht nebeneinander. Die Uhr darunter war seit Jahrzehnten defekt. Seit sich Catia erinnern konnte, standen die Zeiger auf 20 nach 8. Ob das etwas bedeutete? Ob es einen Grund gab, warum die Uhr gerade zu diesem Zeitpunkt stehen geblieben war? Catia wusste nicht einmal, ob es morgens oder abends geschehen war. Sie hatte sich das auch nie gefragt. Es gab vieles, was sie sich noch nie gefragt hatte, aber warum manchmal die Zeit stehen blieb, das war doch wichtig!
Am Haus der Lucarellis waren die Fensterläden geschlossen. Davor parkte der Renault von Angelo Sgreccia. Die Schneedecke auf der Windschutzscheibe war ein wenig abgerutscht. Begann es doch schon zu tauen? Der Himmel war grau. Catias Wangen brannten. Hinter den Scheiben von Minhs Büro war nichts zu erkennen. Er war so stolz gewesen, als er es eingerichtet hatte, obwohl er das nie zugegeben hätte. Catia hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, ihn auf die Stirn geküsst und gefragt, ob er wisse, dass seit einem halben Jahrhundert in Montesecco kein Geschäftsunternehmen mehr eröffnet habe. Minh hatte genickt. Ganz ernsthaft, als sei das eine besondere Verpflichtung für ihn.
Catia fragte sich, was sie Minh nun als Erstes sagen sollte. Etwas Alltägliches vielleicht? Dass es zu tauen begann? Unsinn, sie würde ihn einfach in den Arm nehmen, ihm übers Haar streichen und warten, bis er zu sprechen begann. Er war ihr Sohn. Wie konnte sie sich nur fragen, was sie sagen sollte! Catia machte einen Schritt in Richtung der Stufen.
Als sie noch fünfzehn Meter entfernt war, öffnete sich die Tür über dem oberen Treppenabsatz. Sie schwang nureinen Spalt weit auf, so dass der Lauf einer Pistole hindurchpasste. Catia hatte nichts anderes erwartet. Natürlich musste Minh misstrauisch sein. Bei Hunderten von Polizisten, die nur darauf lauerten, dass er sich eine Blöße gab, blieb ihm keine andere Wahl. Wenn er auf Catia zielte, würde er ja erkennen, wer sie war. Sie ging ruhig weiter.
Und dann sah sie das Mündungsfeuer aus dem kleinen schwarzen Loch vorn am Pistolenlauf schlagen. Der Knall des Schusses schwappte über sie hinweg und brandete gedämpft von den Hauswänden zurück. Mit heftigem Flügelschlag flohen die beiden Tauben über das Hausdach der Lucarellis Richtung Süden. Vom Rand der Turmluke, in die sie sich zurückgezogen hatten, stäubte Schnee herab.
Es war ein Missverständnis. Ein Irrtum. Sicher hatte Minh Catia gar nicht richtig gesehen. Er hatte gespürt, dass sich auf der Piazza etwas bewegte, hatte die Tür geöffnet, Schritte gehört und einen Warnschuss in die Luft abgegeben. Das war alles. Mehr war
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