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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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nicht geschehen. Catia musste nur deutlich machen, dass sie es war. Sie musste nur einmal Minhs Namen rufen, doch sie rief nicht. Das war gar nicht nötig. Gleich würde ihr Sohn sie erkennen. Sie ging langsam weiter, hörte ihren Atem, hörte den Schnee unter ihren Füßen ächzen, hörte das Klicken, mit dem die Pistole wieder gespannt wurde.
    Catia dachte, dass sie es mochte, wenn Schnee lag. Zumindest, solange er frisch und weiß und unberührt war. Auch die Kälte machte ihr nichts aus. Viel weniger jedenfalls als die gnadenlose Hitze, die einen in manchen Sommern kaum atmen ließ. Es gab Sonnenmenschen und Schneemenschen. Catia zählte sich zur zweiten Kategorie. Immer schon war das so gewesen. Vielleicht existierten ja auch Herbststurm-und Frühlingsknospenmenschen, obwohl Catia niemanden kannte, den sie auf diese Weise beschreiben würde. Sie vermochte sich nicht einmal vorzustellen, wie so jemand aussehen oder sich verhaltenkönnte. Catia näherte sich der untersten Stufe der Treppe. Aus dem Türspalt war ein Pistolenlauf auf sie gerichtet.
    Die zweite Kugel glaubte Catia an ihrem Ohr vorbeizischen zu spüren. Wahrscheinlich knallte der Schuss genauso laut wie der erste, doch Catia hörte nur ein Splittern, ihr Kopf flog herum, und sie sah das Einschussloch im unteren Drittel der Seitenscheibe von Angelos Renault. Die Bruchlinien im Glas zogen sich strahlenförmig bis zur Umrahmung des Fensters. Sie wirkten fast echt, aber das konnte nicht sein. Die letzten Tage hatten Catia doch mehr zugesetzt, als sie wahrhaben wollte. Jetzt begann sie schon zu halluzinieren! Es war kein Schuss gefallen. Sie hatte ihn ja nicht einmal gehört. Und selbst wenn es geknallt hätte, selbst wenn ihr eine Kugel ins Fleisch gedrungen wäre, selbst wenn das Blut in Strömen aus der Wunde quellen würde und Catia röchelnd zusammenbräche, wäre es trotzdem unmöglich. Ihr Sohn schoss doch nicht auf sie. Auf seine eigene Mutter! Das war völlig ausgeschlossen. Lachhaft geradezu.
    Catia zögerte kurz. Sie überlegte, ob sie zu Angelos Auto gehen und sich davon überzeugen sollte, dass das Seitenfenster unversehrt war, dass nur eine ungewöhnliche Lichtspiegelung die Splitterlinien in der Scheibe vortäuschte. Aber das war nicht nötig. Sie musste sich keine Selbstverständlichkeiten beweisen. Sie kannte doch ihren Sohn. Catia wandte den Kopf zurück. Die Pistole war auf sie gerichtet. Der Lauf lag am Türrahmen an. In dem schmalen Spalt, um den die Tür geöffnet worden war, herrschte Dunkel.
    »Ich komme jetzt rein, Minh«, sagte Catia mit fester Stimme. Sie tat einen Schritt nach vorn.
    »Nein, Catia!«, rief Franco Marcantoni, doch Catia reagierte nicht. Sie war nur ein Bild in einer Sondersendung von Canale 5. Menschen im Fernsehen hörten nicht, wenn man sie warnte. Sie liefen in Großaufnahme ihrem Unheilentgegen, als könnten sie nicht erwarten, es bis zum Ende auszukosten. Aber die Bewohner von Montesecco wussten, dass es sich anders verhielt. Catia hatte ja keine Ahnung, dass in Minhs Büro nicht ihr Sohn, sondern ein Killer auf sie wartete, dem ihr Leben genauso egal war wie das jedes anderen Menschen. Man hätte Catia nicht gehen lassen dürfen. Man hätte sie sofort suchen müssen, als man bemerkte, dass sie sich davongeschlichen hatte. Spätestens, als man kapiert hatte, dass ein Gewaltverbrecher Minhs Stelle eingenommen hatte. Es war doch abzusehen gewesen, dass Catia versuchen würde, zu ihm durchzubrechen.
    »Wir müssen zur Piazza hinab!«, sagte Ivan Garzone. Er rührte sich genauso wenig wie alle anderen. Sie starrten auf den Fernseher neben dem Kicker. Es war sowieso zu spät. Catia nahm gerade die erste Treppenstufe vor Minhs Büro. Sie war nun von schräg hinten zu sehen. Eine schmale Frau in Jeans und blauem Anorak. Zwölf Stufen, ein Treppenabsatz und noch einmal ein paar Stufen trennten sie von der Tür. Fünf Meter vielleicht. Aus dieser Entfernung war es schwer vorbeizuschießen.
    Die Reporterin flüsterte aus dem Off: »Ist es Mut, Wahnsinn oder Verzweiflung, was diese Frau dazu bewegt, sich den Schüssen ihres eigenen Sohns auszusetzen? Sie alle an den Bildschirmen zu Hause werden mir einen persönlichen Stoßseufzer verzeihen: Hoffentlich endet das nicht in einer Katastrophe! Hoffentlich geht das gut!«
    Lidia Marcantoni murmelte ein Ave Maria. Die anderen sagten nichts dazu. Beten schadete wahrscheinlich nicht, aber es würde auch nichts nützen. Der Killer konnte nicht zulassen, dass seine Strategie,

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