Die Augen der Medusa
sich hinter einem anderen Namen zu verstecken, aufgedeckt wurde. Sollte er Catia etwa durchs Haus führen, um ihr zu beweisen, dass Minh nicht da war? Und sie dann mit der Bitte zurückschicken, keinem zu verraten, dass er ihren Sohn als Attentäter ausgegeben hatte? Nein, ein solches Wunder würde niemand bewirken, auch nicht die Gottesmutter.
Die Reporterin im Fernsehen fragte: »Kann Catia V. ihren Sohn davon überzeugen, die Waffen zu strecken und sich den Behörden zu ergeben?«
Lidia Marcantoni begann von vorn, kaum dass sie das erste Ave Maria beendet hatte. Sie fand nun in den leiernden Rosenkranzrhythmus, der einem Zuhörer die Gewissheit vermittelt, dass das ewig so weitergehen wird. »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade. Der Herr ist mit dir …«
Jeden Moment erwartete man den Schuss. Aus irgendwelchen Gründen war man überzeugt, dass es nur noch einer sein würde. Der Schnee würde sich rot färben, und keiner von ihnen brächte ein Wort hervor, außer Lidia Marcantoni, die ein Ave Maria nach dem anderen aufsagen würde.
»Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes …«
Vielleicht sprach Lidia weiter, vielleicht auch nicht. Keiner achtete darauf, ob sie ins Stocken geriet, als der dritte Schuss aufbellte. Catia hielt in der Bewegung inne. Den Blick nach oben auf die Tür gerichtet, den linken Fuß schon eine Stufe höher als den rechten gesetzt, stand sie wie erstarrt, unendliche Sekundenbruchteile lang, in denen gar nichts passierte. Keine Wunde war zu sehen, kein Blut, und man fragte sich, ob die Pistolenkugel ihr Ziel doch verfehlt hatte und woanders eingeschlagen war oder ob sie noch durch die Luft zischte oder ob man sich den dritten Schuss vielleicht nur eingebildet hatte, weil man so sehr mit ihm gerechnet hatte, und dann lief ein Zittern durch Catias Körper, von unten nach oben, als hätte der Boden ihr einen Stromstoß versetzt. Sie schwankte, als sie das Gewicht auf den linken Fuß verlagerte, die Hand auf den Oberschenkel stemmte und mit sichtbarer Mühe den anderen Fuß auf die nächsthöhere Stufe nachzog. Sie richtete sich noch einmal gerade, dann knickten ihr die Knie weg.
Catia sank in sich zusammen, schien einen Moment auf der Treppe zu kauern, bevor ihr Oberkörper nach hinten wegsackte, ihr Rücken an den Kanten der Stufen entlangschrammte und der Hinterkopf auf dem schneebedeckten Pflaster der Piazza aufschlug. Catia lag da, ihre Beine auf den Stufen, als hätte sie sie hochgelegt. Ihre rechte Hand krampfte sich in den Schnee und hob sich dann mühsam. Langsam glitt sie über den Anorak auf die Stelle zu, wo sich das Blau dunkel färbte.
»Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes …«
Catia war getroffen worden. Schwer verletzt lag sie auf der Piazza, konnte kaum mehr die Hand rühren, um nach der Wunde zu greifen. Als halte selbst das Fernsehbild den schrecklichen Anblick nicht aus, wechselte es schnell zur Tür, die gerade geschlossen wurde. Die Kamera hielt starr darauf. Es war noch die alte Massivholztür von Rapanottis Laden. Matteo Vannoni hatte sie abgeschliffen, restauriert und neu eingelassen, als sich Minh das Büro eingerichtet hatte. Makellos sah sie aus. Wuchtig und schwer. Klinke und Beschläge glänzten messingfarben. Matteo Vannoni hatte das Schloss bei der Restaurierung ersetzt. Das alte wäre vielleicht noch zu retten gewesen, aber man konnte es mit jedem Schraubenzieher knacken, und Minh besaß doch elektronische Geräte von einigem Wert. Im Büro war zwar nicht eingebrochen worden, aber dass sich ein Killer dort eingenistet hatte, hatte das neue Schloss auch nicht verhindern können. Niemand konnte etwas verhindern. Manche konnten wenigstens beten.
»… Maria voll der Gnade. Der Herr ist mit dir …«
Dann fuhr die Kamera wieder auf Catia zurück, die im Schnee lag und sich nun gar nicht mehr rührte, als wäre sie …
»Warum kommt ihr denn keiner zu Hilfe?« , schrie die Stimme der Reporterin aus dem Fernseher. »Wo bleiben die Sanitäter? Wo ist der Notarzt? Uns ist in den letzten Tagen mehrfach versichert worden, dass man auf alle Eventualitäten vorbereitet sei. Und nun? Die Frau verblutet doch, wenn nicht sofort …«
Catia drehte langsam den Kopf zur Seite. Die Kamera ging näher heran, man sah den Schmerz in den bleichen Zügen, sah, wie Catia die Lippen bewegte, als versuche sie zu beten oder einen Namen auszusprechen oder einfach nur um Hilfe
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