Die Augen der Medusa
zu rufen, nach Franco und Lidia, nach Ivan und Marta, nach den Sgreccias und Milena Angiolini, doch keiner von ihnen kam, keiner würde kommen, es ging eben nicht. Schon die Polizeisperren würden sie nicht überwinden können. Außerdem war keiner von ihnen Arzt. Woher sollten sie wissen, was zu tun war? Sie würden versuchen, Catia aus der Gefahrenzone zu schleppen, aber vielleicht war genau das verkehrt. Wahrscheinlich durfte sie gar nicht oder nur in ganz bestimmter Weise bewegt werden, damit ihr Leben nicht gefährdet wurde. Und schließlich, was half es Catia, wenn auf einen oder zwei oder drei andere ebenfalls geschossen würde? Wenn sie tot neben ihr in den Schnee sänken?
Eine Mischung aus Entsetzen, Hilflosigkeit und Angst ums eigene Leben fesselte die Dorfbewohner auf die Stühle in Ivans Bar. Wie gebannt, ja fast wie in Stein verwandelt, starrten sie auf das Fernsehbild. So, als könne nur das, was ihnen das Grauen vorgeführt hatte, auch Rettung bringen. Catia hatte die Augen geschlossen, doch ihr Mund formte immer noch unentzifferbare Worte. Die Reporterin sagte irgendetwas, Lidia betete, aber niemand hörte anderes als die Stille, die aus Catias Lippen über die Kamera und die Sendeanlagen des Übertragungswagens, über Studios, Satelliten, Antennen bis in die Bar drang und dort vorwurfsvoll widerhallte. Es war kaum auszuhalten. Irgendwann musste das alles doch vorüber sein!
Endlich tauchten zwei Sanitäter mit einer Bahre auf. Geduckt liefen sie über die Piazza, um ein möglichst kleines Ziel abzugeben. Sie vergewisserten sich nicht einmal, ob Catia noch lebte. Der eine packte sie unter den Achseln,der andere in den Kniekehlen. Ein schneller Blick über die Schulter: Die Tür von Minhs Büro blieb geschlossen. Die beiden hoben an, legten Catia auf die Bahre und trugen sie aus dem Bild. Die Piazza war menschenleer. Im Schnee zeigte sich nun ein Gewirr von Spuren. Ihre Herkunft zu bestimmen oder einer einzelnen mit dem Auge zu folgen war ein hoffnungsloses Unterfangen.
Die Stimme der Reporterin sagte: »Jetzt, meine Damen und Herren, heißt es beten und auf die ärztliche Kunst hoffen. Nur sie kann einer Frau das Leben retten, das ihr eigener Sohn ihr zu nehmen versuchte. Sobald sich neue Entwicklungen ergeben, werden wir sofort wieder für Sie nach Montesecco schalten. Damit zurück ins Studio. Das war Anna-Maria Guglielmi für Canale 5.«
Matteo Vannoni hatte den Fernseher nicht eingeschaltet gehabt. Auf Dauerwerbesendungen, die von Kurzauftritten hysterischer Showmoderatoren unterbrochen wurden, hatte er genauso wenig Lust wie auf Teleshopping oder die Selbstdarstellung wichtigtuerischer Politiker. Vannoni hatte es vorgezogen zu lesen. »Gomorrha«, ein Buch von Roberto Saviano über die neapolitanische Camorra. Er war auf Seite 135 angelangt, wo die Zahl der von den Clans Ermordeten Jahr für Jahr penibel aufgeführt wurde. Dreiundachtzig Opfer 2003, hundertzweiundvierzig 2004, neunzig 2005. Seit 1980 insgesamt dreitausendfünfhundert Tote, mehr als die Terrorkriege der ETA in Spanien und der IRA in Irland gefordert hatten.
Vannoni überlegte gerade, ob man das miteinander vergleichen könne, als das Telefon klingelte. Es war Marta Garzone. Schon an der Art, wie sie sich meldete, begriff Vannoni, dass eine Katastrophe geschehen war.
»Ist etwa Minh …?«, fragte er und merkte, wie ihm die Angst die Kehle zuschnürte.
»Catia«, sagte Marta. Sie berichtete, was auf der Piazza vorgefallen war.
Vannoni starrte auf das Tastenfeld des Telefons vor sich. Die Zahlen von eins bis neun waren in einem Quadrat angeordnet. Die Null stand darunter. So, als gehöre sie nicht wirklich dazu. Vannoni war nicht in der Lage zu fragen, ob seine Tochter noch lebte. Mit Mühe krächzte er hervor: »Wo ist sie?«
Marta wusste es nicht. Sie vermutete, dass die Sanitäter sie zur provisorischen Erste-Hilfe-Station in der Sebastianskapelle getragen hatten. Vannoni nahm sich nicht die Zeit, den Telefonhörer aufzulegen. Er stürmte aus der Tür und lief Richtung Piazzetta. Schon nach zwanzig Metern hörte er die Sirene, und gleich darauf sah er das Blaulicht der Ambulanza in der Serpentine vor dem Kirchturm auftauchen. Gott sei Dank, Catia war nicht tot! Noch lebte sie, sonst würde man sie nicht … Der weiße Wagen beschleunigte aus der Kurve heraus, hielt auf Vannoni zu. Der winkte verzweifelt. Er musste mit. Er musste sie zumindest sehen! Mit unverminderter Geschwindigkeit fuhr der Krankenwagen an ihm vorbei
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