Die Augen der Medusa
Langzeitnarkose.«
»Langzeitnarkose?«, fragte Vannoni.
»Künstliches Koma«, sagte der Arzt. »Ein Mix aus Sedativa, Schlafmitteln, Schmerzmitteln, Neuroleptika.«
»Sie können doch nicht …!«, stieß Vannoni hervor.
»Doch«, sagte der Arzt. »Oder wäre es Ihnen lieber, dass sie an den eigenen Stressreaktionen stirbt?«
Sie standen in einem Gang der Uniklinik von Ancona, der genauso aussah wie ein Gang in irgendeinem anderen Krankenhaus Italiens. Vannoni wandte sich zum Fenster. Draußen wallte der Nebel vom Meer her. Ein wenig entfernt waren die Konturen irgendwelcher Häuser zu erkennen. Über die Schulter fragte Vannoni: »Wie lange?«
»Solange es nötig ist«, sagte der Arzt.
Vannoni nickte. Er fragte: »Hat sie etwas gesagt?«
»Nein«, sagte der Arzt. »Nur einen Namen. Minh, oder so ähnlich.«
Vannoni nickte erneut. Es war eine Verpflichtung. Nein, es war seine Verpflichtung. Catia trug ihm auf, sich um Minh zu kümmern. Es war das Einzige, was er tun konnte, und er würde es auch tun. Gleich morgen. Diese Nacht würde er hier im Krankenhaus verbringen. So nah an der Intensivstation, wie man ihn heranlassen würde. Vannoni wandte sich an Luigi und trug ihm auf, allein nach Montesecco zurückzufahren. Er selbst würde sich später ein Taxi nehmen.
Als Marisa Curzio nach der Auseinandersetzung mit ihrem Mann die Bar verlassen hatte, war sie schnurstracks zu Catia Vannonis Haus gelaufen. In ihr eigenes wollte sie auf keinen Fall zurückkehren, solange sich ein Fernsehteam darin breitmachte. Und danach erst recht nicht. Sie hätte es nicht ausgehalten, allein mit Donato im selben Raum zu sitzen. Schon der Gedanke daran war ihr unangenehm. Wie konnte Donato nur so völlig gefühllos sein! Was war das für ein Mensch, der aus dem Unglück von Freunden ein Geschäft machte? Und dann noch so tat, als geschähe es ihnen zuliebe!
Marisa verstand ihn nicht mehr, und sie wollte ihn auch nicht verstehen. Es war, als sei seit dem Attentat etwas zwischenihnen zerbrochen, und wenn sie ehrlich war, wusste sie nicht, wie man das noch reparieren sollte. Wahrscheinlich hatten sich vorher schon tiefe Risse durch ihre Beziehung gezogen, die Marisa nur nicht hatte sehen wollen. Das war auch ihr Fehler gewesen. Wohl deswegen fühlte sie sich für Donatos Verhalten in gewisser Weise mitverantwortlich. Trotz aller Missbilligung gelang es ihr einfach nicht, sich davon zu distanzieren und zu denken, dass jeder das Recht habe, sich so zu blamieren, wie er wollte.
Nein, Marisa litt unter jedem einzelnen von Donatos Sprüchen, sie schämte sich für die Denkungsart, die in ihnen zum Ausdruck kam, und fühlte sich aufgefordert, doppelt und dreifach gutzumachen, was er angerichtet hatte. Viel war ihr dazu allerdings nicht eingefallen. Sie hatte sich ein wenig um Catia gekümmert, nachdem sie aus ihrem besetzten Zuhause geflüchtet war. Im Wesentlichen hatte sie jedoch vor dem Fernseher gesessen, hatte durch die Programme gezappt und alles eingesogen, was mit den Geschehnissen in Montesecco zu tun hatte.
Als sie nun an Catias Tür klopfte, antwortete niemand. Marisa drückte die Klinke herab. Es war nicht abgeschlossen. Sie ging ins Wohnzimmer, schaltete gewohnheitsmäßig den Fernseher an und bekam live mit, wie Catia nach dem Schuss des Geiselnehmers fiel und abtransportiert wurde. Nach dem Ende der Sendung ließ Marisa den Fernseher weiterlaufen, stand auf, ging zum Fenster, schaute hinaus, drehte sich wieder um und starrte das Sofa an. Es war ein tiefes, mit weichem braunem Kunstleder bezogenes Stück, aus dem man schwer herauskam, wenn man einmal darin versunken war. Auf ihm hatte sie die letzte Nacht mehr schlecht als recht geschlafen. Dort, auf der linken Seite, hatte Catia gesessen, als sie Stunden über Stunden die Nachrichtensendungen verfolgt hatten. Diesen Abend würde Marisa allein da sitzen. Irgendwann würde sie sich zwei Wolldecken überwerfen und vor dem laufenden Fernseher einschlafen. Catia würde stundenlangoperiert werden und – wenn alles gut ging – auf einer Intensivstation liegen. Ihr Bett im oberen Zimmer würde unberührt bleiben. Marisa ging in die Küche und goss sich ein Glas Wasser ein.
Die Leere im Haus war fast körperlich zu spüren. Tisch und Stühle strahlten sie aus, die gestapelten Teller im Geschirrschrank, die Kacheln, Wände und die alten Kinderzeichnungen von Minh, die neben dem Fenster hingen. Selbst das unbarmherzige Ticken der alten Uhr über der Tür und der gedämpfte,
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