Die Augen der Medusa
nicht verständliche Ton des Fernsehers aus dem Salotto konnten daran nichts ändern. Marisa war versucht, sich zu räuspern und sich laut vorzusagen, dass sie sich nicht so anstellen solle, ein leeres Haus war eben ein leeres Haus, doch sie wusste, dass es nichts helfen würde. Selbst wenn sie staubsaugte, Geschirr auf den Fliesen zersplittern ließ oder sonst irgendwie Krach machte, würde das beklemmende Gefühl bleiben, weil es nicht in der Stille seinen Ursprung hatte. Fast schien es Marisa, als wünschten diese Räume, leer zu stehen und langsam zu verfallen. Erst war Minh aus ihnen verschwunden und jetzt Catia. Es war, als hätte dieses Haus, das die beiden eigentlich beherbergen und beschützen sollte, sie böswillig hinausgespien in eine feindliche Welt, der sie hilflos ausgeliefert waren.
Aber war es den anderen Bewohnern Monteseccos – wenn auch in harmloserem Ausmaß – nicht ähnlich ergangen? Waren sie nicht Hals über Kopf evakuiert worden? Wurden ihnen nicht von den Reportern die Türen eingerannt? Waren ihnen nicht die blutigen Schatten der Vergangenheit in die innersten Winkel hineingehetzt worden, wo sie noch lange umhergeistern würden? Auch Marisa hätte ihr Zuhause nicht ohne äußeren Anstoß aufgegeben, doch immerhin hatte sie im Gegensatz zu den anderen selbst die Entscheidung getroffen, so nicht weitermachen zu wollen. Jetzt befand sie sich hier, und sie würde sich von der unheimlichen Atmosphäre nicht ängstigen lassen.
Sie würde bleiben, gerade weil die Leere sonst überhandnähme. Marisa musste ihr entgegentreten. Das war sie Minh schuldig. Und Catia. Und nicht zuletzt sich selbst. Marisa nahm ihr Glas Wasser mit in den Salotto. Sie setzte sich auf die Seite des Sofas, auf der Catia immer gesessen hatte, sie streifte die Schuhe ab, nahm die Beine hoch und winkelte sie an. Auf Canale 5 lief die hundertundachte Folge von »Tempesta d’amore«. Marisa schaltete durch die anderen Programme, fand aber nirgends eine Sendung über Montesecco. Also kehrte sie zu der Soap zurück, in der ein gewisser Werner in den Besitz eines ihn belastenden Dokuments gelangte. Zusammen mit Laura, die großherzig darauf verzichtete, ihn anzuzeigen, vernichtete er das Beweisstück. Aber natürlich gab es eine Kopie davon, die ebenso natürlich der erbitterten Rivalin Cora zugespielt wurde. Und so weiter.
Marisa kannte sich aus. Bevor sie ihren Mann kennen gelernt hatte, hatte sie ein paar Serien regelmäßig verfolgt. Nicht nur, weil Donato sich überhaupt nicht dafür interessierte, war ihr die Lust daran vergangen. Es hatte sie geärgert, dass das Strickmuster immer gleich blieb. Von der Mimik der Schauspieler über die Dialoge bis hin zur Entwicklung der Geschichte war trotz der oberflächlichen Dramatik alles vorhersehbar. Vielleicht wirkte es deswegen so falsch, ohne dass Marisa genau hätte sagen können, was nicht stimmte. Es lohnte sich auch gar nicht, sich darüber Gedanken zu machen. So funktionierten diese Telenovelas eben. Egal, was geschah, am Schluss würden sich die kriegen, die das Drehbuch füreinander bestimmt hatte.
Nur im Leben gab es keine Drehbücher. Man konnte Pläne schmieden, aber dann lief doch alles ganz anders, als man es sich vorgestellt hatte. Wenn irgendwer Marisa vor ein paar Tagen gesagt hätte, dass sie ausziehen und Donato am liebsten zum Teufel jagen würde, hätte sie laut aufgelacht. Und dass ein Attentäter hier einen Oberstaatsanwalt ermordete, dass er sich in Montesecco verschanzte,um verurteilte Brigadisten freizupressen, dass er neben vier Polizisten auch Minh in seine Gewalt brachte und auf Catia schoss, so etwas hätte sich doch keiner ausdenken können.
Oder etwa doch? Wenn Marisa jetzt auf die Ereignisse der letzten Tage zurückblickte, kamen sie ihr ähnlich falsch vor wie die hundertundachte Folge von »Tempesta d’amore«. So, als hätte jemand ein auf hohe Einschaltquoten zielendes Drehbuch verfasst, das er bloß nicht mit zweitklassigen Schauspielern, sondern im wirklichen Leben umsetzte. Nur war nicht vorhersehbar, wie es weiterging. Würde der Innenminister die Forderungen erfüllen, oder würde der Geiselnehmer vorher aufgeben? Würden die Geiseln durch einen Angriff der Spezialeinheit befreit werden, oder würde alles in einem Blutbad enden? Vielleicht stand das Ende aber doch schon fest, und Marisa hatte bloß die Logik des Drehbuchs noch nicht begriffen.
Nein, das war Quatsch! Hier in Montesecco handelten Menschen aus Fleisch und Blut. Sie
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