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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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befunden, und auch wenn sich jetzt deutlich mehr Fremde als Einheimische in Montesecco aufhielten, hatte er es offensichtlich noch nicht geschafft, sich umzustellen. Hastig schlüpften Antonietta und Vannoni durch die Tür. Sie drückten sie in dem Moment zu, als der erste Polizist um die Hausecke bog.
    Vannoni presste sein Ohr an das Türholz, hörte aber nichts. Keine Stiefeltritte auf dem Pflaster, keine knappen Kommandos, kein Aneinanderschlagen von Maschinenpistolen. Im Kopf zählte er bis zwanzig. Anscheinend waren die Polizisten vorbeimarschiert, ohne Verdacht zu schöpfen. Sicherheitshalber wollte Vannoni vom Fenster aus überprüfen, ob die Gasse wirklich frei war.
    Die Sgreccias, die nach Räumung ihres Hauses hier einquartiert worden waren, schliefen wohl schon, doch Franco Marcantoni war noch auf. Er kam ihnen aus dem Salotto entgegen und fragte, ob sie von dem Schuss gehört hätten. Vannoni nickte und schob sich an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Franco sagte: »Jetzt herrscht wirklich Krieg. Costanza mag ja nicht ganz dicht im Kopf sein, aber dass der Krieg ausbricht, hat sie früher gespürt als wir alle. Ausgangssperre! Kontrollposten! Überall Bewaffnete unterwegs! Du kannst in deinem eigenen Dorf keinen Fuß mehr vor die Tür setzen, ohne verhaftet zu werden. Und in Minhs Büro werden Geiseln erschossen. Das ist doch keinen Deut anders als 1944! Sag selbst, Matteo, wie soll man das sonst nennen, wenn nicht Krieg?«
    Vannoni stellte sich ans Fenster. Die Persiane waren geöffnet. Er bat Franco, das Licht im Salotto auszuschalten.
    »Das war gerade die dritte Patrouille«, sagte Franco. »So, wie es aussieht, kommen sie im Abstand von sieben bis acht Minuten vorbei. Ihr könnt gern hier bleiben, aber wenn ihr nach Hause wollt, solltet ihr warten, bis die nächste durch ist. Dann nichts wie raus!«
    »Du hast sie beobachtet?«, fragte Antonietta.
    »Natürlich!« Franco kicherte kurz. Die Straßenlaterne hing vorn an der Abzweigung. Dank ihr hatte Vannoni die Gasse gut im Blick. Nichts rührte sich. Die Mauer des gegenüberliegenden Hauses war etwa drei Meter entfernt. Dort waren die Fensterläden geschlossen. Die Haken, an denen sie festgestellt wurden, ragten aus dem Putz. In dessen unteren Teil hatten sich Wasserspuren gefressen, die an eine mit Tusche gezeichnete fernöstliche Landschaft denken ließen. Bergig, dunstverhangen, düster.
    »Ihr wollt gar nicht nach Hause«, sagte Franco plötzlich. »Ihr seid losgezogen, weil ihr etwas vorhabt, nicht?«
    Am Fuß der Hausmauer lag Schnee. Er passte zu dem Bild darüber. Als wäre die verschwommene Berglandschaft der ferne Hintergrund dazu.
    »Natürlich habt ihr etwas vor!«
    Vannoni drehte sich um. »Das geht dich nichts an, Franco!«
    »So, das geht mich nichts an! Und dass Krieg ist, geht mich wohl auch nichts an? Und dass hier Menschen erschossen werden, soll mir wahrscheinlich völlig egal sein? Hör mal zu, Matteo: Ich bin fünfundzwanzig Jahre älter als du, und ich habe in Montesecco schon …«
    »Ist gut, Franco«, sagte Antonietta, und noch bevor Vannoni protestieren konnte, erläuterte sie ihren Plan. Franco unterbrach sie nicht ein einziges Mal. Als sie fertig war, starrte er sie ein paar Sekunden lang stumm an, sagte: »Moment!« und verschwand. Wenig später keuchte er ins Zimmer zurück. Auf beiden Armen schleppte er eine Last, die nach einer Fuhre Altmetall aussah.
    »Was ist das?«, fragte Antonietta.
    Franco legte das Zeug auf dem Tisch ab. Er tippte sich an das verfilzte graue Berretto, das er sich übers weiße Haar gestülpt hatte. Das da? Das sei ihm von Zio Tommaso vererbt worden. Der habe es während der ganzen acht Monate, als er aus den Wäldern um Fonte Avellana herum mit seiner Partisaneneinheit die Faschisten bekämpft hatte, nicht einmal abgesetzt. Er, Franco, betrachte es als große Ehre und noch mehr als Verpflichtung, dem Vermächtnis dieses leider allzu früh verstorbenen Kämpfers für die Freiheit nachzueifern. Vannoni schüttelte den Kopf.
    »Oder meinst du das da?« Franco wies auf den Tisch. »Mindestens zwei Mauern durchbrechen wollen und keinerlei Werkzeug dabei haben, das ist wieder mal typisch für euch Junge!«
    Stolz präsentierte er Eisenstangen verschiedenen Kalibers, ein Brecheisen, einen schweren Wagenheber, zwei Vorschlaghämmer und einen Pickel, den er, wie er in diesem historischen Augenblick zu gestehen nicht zögern wollte, Anfang der 60er Jahre an einer Straßenbaustelle zwischen Arcevia und Palazzo

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