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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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solchen Verlauf der Geiselnahme gerechnet?«
    »Wie fühlen Sie sich in diesem Moment? Für Sie als Großvater muss es doch …«
    Vannoni griff nach der Whiskyflasche und holte aus. Die beiden Reporter waren schon draußen, als die Flasche gegen die Tür prallte und zu Boden fiel. Sie ging nicht kaputt. Langsam stand Vannoni auf. Dass Minh eine Geisel erschossen haben sollte, war lächerlich, aber was Vannoni für lächerlich hielt, interessierte niemanden. Und wenn er hinausliefe, um dagegen zu protestieren, dass die Polizei seinen Enkel ermordete, würde man ihm das auch deutlich zu erkennen geben.
    Nein, es war genug protestiert. Nun würde Vannoni sich wehren. Widerstand unterschied sich von Protest dadurch, dass man selbst dafür sorgte, etwas nicht eintreten zu lassen. Jetzt war Schluss mit den Skrupeln und dem ewigen Einerseits-Andererseits. Ab sofort galten wieder die einfachen, klaren Wahrheiten: Der Zweck heiligt die Mittel. Wer nicht für dich ist, ist gegen dich. Das System macht keine Fehler, es ist der Fehler. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
    Vannoni ergriff die Weinflaschen, ging zum Spülbecken und ließ die Flüssigkeit in den Ausguss laufen. Er hatte zwei Flaschen, für jede Hand eine. Einen Reservekanister, aus dem er sie füllen konnte, würde er irgendwo auftreiben. Dann brauchte er nur noch zwei Lappen mit Benzin zu tränken und in die Flaschenhälse zu stopfen. Ein kleines schwarzes Feuerzeug lag auf dem Tisch. Vannoni ließ die Flamme probehalber anspringen. Er überlegte, auf wen er die Mollis am besten schleuderte. Sollte er die Einsatzleitung im Pfarrhaus angreifen oder versuchen, in den Belagerungsring eine Bresche zu schlagen, durch die Minh flüchten konnte?
    Antonietta packte ihn fest an beiden Oberarmen. Vannoni hatte nicht vor, sie einzuweihen, doch sie schien zu ahnen, was er plante. Er hielt ihrem Blick stand und schwor auf ihr Verlangen hin, vernünftig zu bleiben. Die fünf Minuten, die er sich gab, um sie zum Stillhalten zu bewegen, waren noch nicht um, als er eine Lautsprecherstimme durch die Hauswände dringen hörte: »Achtung, hier spricht die Polizei. Mit augenblicklicher Wirkung hat der Questore der Provinz Pesaro-Urbino im Auftrag der Regierung der italienischen Republik über den gesamten Ort Montesecco eine Ausgangssperre verhängt. Vorläufig bis morgen früh um 9 Uhr darf niemand das Haus, in dem er sich befindet, verlassen. Bewaffnete Patrouillen werden die Einhaltung der Maßnahme überwachen. In Ihrem eigenen Interesse bitten wir Sie: Bleiben Sie ruhig und unterstützen Sie Ihre Polizei durch kooperatives Verhalten!«
    Die Bekanntmachung wurde dauernd wiederholt und tönte jetzt so laut herein, dass selbst ein Toter davon aufwachen musste. Vannoni machte sich von Antonietta los und trat ans Fenster. Im Schritttempo rollte ein Lautsprecherwagen der Staatspolizei vorbei. Ausgangssperre bis morgen früh um 9 Uhr. Dann sollte alles erledigt sein. Sie würden wohl in den frühen Morgenstunden losschlagen.Viel Zeit blieb Vannoni nicht mehr. Er sah zu, wie der Lautsprecherwagen am Ortsausgang umdrehte.
    Antonietta stand dicht hinter Vannonis Rücken. Auch wenn sie ihn nicht berührte, spürte er sie genau. Er sollte sich umdrehen und sie umarmen. Er sollte sie noch einmal küssen und dann Abschied nehmen. Vielleicht würde er sie nie mehr wiedersehen. Es war klar, dass er den Polizeieinheiten nicht entkommen konnte, und wenn er sich nicht widerstandslos verhaften ließ, würden sie ihn erschießen.
    »Willst du sterben?«, fragte Antonietta in seinem Rücken.
    Wollte er das? War das der einzige Weg, sich nicht mehr hilflos zu fühlen? Der Lautsprecherwagen kam langsam die Straße zurück. Vannoni stieß hervor: »Wovon redest du eigentlich?«
    »Sag mir, ob es das ist, was du willst! Sterben?«, flüsterte Antonietta.
    »Bewaffnete Patrouillen werden die Einhaltung der Maßnahme überwachen. In Ihrem eigenen Interesse bitten wir Sie …«, gellte die Lautsprecherstimme von draußen. Vannoni wandte sich um. Antonietta war einen Kopf kleiner als er. Ihr Haar war immer noch so schwarz wie damals, als er sie kennen gelernt hatte. Vannoni fragte sich, ob sie es färbte. In ihr Gesicht hatten sich Falten eingeschnitten, und ihre Haut schien blasser geworden zu sein, fast durchsichtig. Hinter ihren dunklen Augen jedoch loderte dieselbe Glut wie eh und je.
    Vannoni begriff, dass es nicht genügt hatte, sie verstehen zu wollen, als sie mit dem Verbrechen ihrer Tochter

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