Die Augen der Medusa
Franco auf. »Und jetzt hören Sie mal genau zu: In meinen vier Wänden mache ich, was mir behagt. Musik hören, im Bett frühstücken, auf dem Tisch tanzen, Gläser gegen die Wand werfen, und wenn mir danach ist, dann reiße ich sogar Mauern nieder. Haben Sie das verstanden?«
Der Patrouillenführer antwortete nicht. Die Luft, die von der Gasse hereindrang, war eisig. Celentano sang den Titel »A cosa serve soffrire« so laut, dass die Worte bis über den Friedhof hinaus zu verstehen sein mussten.
»Gut«, sagte Franco.
»Ich werde Meldung erstatten müssen«, sagte der Patrouillenführer.
»Richten Sie Grüße von Franco Marcantoni aus!«, sagte Franco und schlug die Tür zu. Er wandte sich zu den anderen um, hob abwehrend die Hände und sagte: »Bitte jetzt keinen Applaus, wir haben genug zu tun.«
Dann ging er durchs Haus und begutachtete die Schränke. Der im Schlafzimmer schien ihm der einzig geeignete zu sein. Milena musste Sommerkleider wie Wintermäntel ausräumen, und die Männer wuchteten den Schrank die Treppe hinab. Sein linkes Drittel war in Wäschefächer unterteilt. Die Flügeltür vor dem rechten Teil, in dem die Kleiderbügel hingen, ließ sich abschließen. Die Front des Schranks glänzte in poliertem Massivholz, doch die Rückseitebestand nur aus dünnen Spanplatten. Ein paar Schrauben waren schnell gelöst, und dann konnte eine der Platten herausgenommen werden.
Nun musste das Ding nur noch so ausgerichtet werden, dass die Öffnung auf der Rückseite genau vor dem Loch zum Haus der Deutschen zu liegen kam. Da die Durchbruchsarbeiten noch im Gange waren, hielt man vorläufig anderthalb Meter Abstand zur Wand. Milena hängte ihre Kleider trotzdem schon wieder hinein, sonst hätte sie sich das Bügeln ja sparen können. Außerdem würden sie, wenn der Schrank an die Wand gerückt war, den Durchstieg vor den neugierigen Augen eventuell einbrechender Polizisten tarnen. Bei allem, was sich die Staatsmacht schon geleistet hatte, traute man ihr durchaus zu, nicht einmal mehr die Habeas-Corpus-Akte zu respektieren. Oder wie immer dieses Schriftstück hieß, das einem erlaubte, zu Hause auf dem Tisch zu tanzen und Mauern niederzureißen.
Antonietta sah zu, wie Matteo Vannoni verbissen Ziegel für Ziegel aus der Wand stemmte, als ob es undenkbar wäre, sich irgendetwas anderem zu widmen. Natürlich verstand sie, dass er seinen Enkel retten wollte. Und ebenso, dass es eine ungeheure Erleichterung bedeutete, sich dafür körperlich abarbeiten zu können, auch wenn der Sinn dieser Arbeit noch längst nicht erwiesen war.
Antonietta hatte am eigenen Leib verspürt, wie es sich anfühlte, völlig auf ein Problem fixiert zu sein. Auf ein tragisches Ereignis, das einfach nicht wahr sein durfte. Man machte sich selbst Vorwürfe, dachte, nur genügend glauben zu müssen, um es ungeschehen werden zu lassen, doch sie hatte auch erfahren, was dabei herauskam. Geist, Herz, Seele, alles wurde absorbiert von einem einzigen schwarzen Schatten, einem Krebsgeschwür, das zersetzte, was das Leben eigentlich ausmachte. Und was hatte es genützt? Ihre Tochter Sabrina war nicht gestorben, sie war nicht einmal im Gefängnis gelandet, und doch hatte Antoniettasie für immer verloren. Antonietta befürchtete, dass es Matteo ähnlich ergehen könnte. Egal, ob Minh nun der von Polizei, Politik und Medien identifizierte Terrorist war oder doch eine in Lebensgefahr schwebende Geisel, wie es alle in Montesecco zu glauben schienen.
Plötzlich wurde ihr klar, dass nicht nur Matteo, sondern der gesamte Ort von der Krankheit infiziert war, die sie selbst vor Jahren durchlebt hatte. Erst hatten Polizei und Medien ihnen Stück für Stück ihren äußeren Bewegungsraum genommen, die Piazza, die Zufahrtsstraßen, die Bar und schließlich jeden Quadratzentimeter außerhalb der Häuser. Im selben Maß waren die Luft zu atmen und die Freiheit zu denken knapp geworden. Inzwischen hatte sich der Virus ihrer Köpfe vollständig bemächtigt. In ihnen existierte nichts mehr von dem, was vorher wichtig gewesen war. Nur noch Mord und Geiselnahme, Krieg und Widerstand, Betrug und Misstrauen. Hier in Milenas Haus mochte man Mauern niederreißen, doch in ihnen selbst standen sie fester und undurchdringlicher denn je.
Die Geiselnahme würde vielleicht in einer Katastrophe enden, aber fast noch mehr fürchtete Antonietta, was danach kommen würde. Die Leere, die sich unweigerlich einstellen würde, wenn vorüber war, womit man sich ausschließlich
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