Die Augen der Medusa
Sabrina zurechtkommen musste. Er hätte sich in sie hineinversetzen, er hätte teilhaben müssen. Doch es war sein eigenes Enkelkind gewesen, das damals höchstwahrscheinlich von Sabrina entführt worden war. Das einzige Kind seiner einzigen Tochter. Und jetzt befand sich Minh in der Gewalt eines schwerbewaffneten Verrückten, der schonbewiesen hatte, dass er vor nichts zurückschreckte. Ein Schuss war in Minhs Büro gefallen. Vielleicht hatte er der Welt eine Hinrichtung gemeldet, nicht die von Minh, nein, das war einfach undenkbar, doch sicher war, dass die Zeit ablief. Die Polizei würde stürmen, egal, was es kostete.
»Ich muss etwas tun«, sagte Vannoni, »egal, was es kostet. Ich muss es zumindest versuchen.«
Antonietta nickte. »Wir könnten uns auf der Piazza in den Weg stellen, so dass sie nicht stürmen können.«
Hatte sie »wir« gesagt? Vannoni schüttelte den Kopf. »Das ist nicht deine Aufgabe.«
»Wir müssen die anderen mobilisieren und einen Ring um Minhs Büro bilden.«
»Niemand kommt bis zur Piazza durch. Jetzt nicht mehr«, sagte Vannoni. Höchstens, wenn man selbst rücksichtslos Gewalt anwandte. Und auch dann war die Chance verschwindend gering.
»Wir gehen durch die Häuser«, sagte Antonietta. »Bei Milena Angiolini fangen wir an. Da brechen wir durch die Mauer hinüber ins Haus, das die Deutschen gekauft haben, und von dort weiter zu den Sgreccias. Dann sind wir schon hinter den Wachposten in der Sperrzone. Dort sind keine Patrouillen mehr unterwegs.«
Vannoni blickte sie an und begriff, dass sie es ernst meinte. Er setzte sich an den Tisch. Natürlich konnte es sein, dass sich Scharfschützen im Haus der Sgreccias eingenistet hatten, doch wahrscheinlich war das nicht, da man von dort den Ort der Geiselnahme nicht im Blick hatte. Er war von einem Haus verdeckt, das seit dem Wegzug der Salviatis leer stand. Die Gasse dazwischen verhinderte, dass man von den Sgreccias bis dorthin und damit bis an die Wand von Minhs Büro durchbrechen konnte. Dennoch hatte Antoniettas Idee etwas für sich. Wenn alles glatt ginge, wäre man nur ein paar Schritte von Minh entfernt, an einer Stelle, wo einen kein Polizist vermuten würde. Man würde die Vorbereitungen für den Sturmangriff bemerkenund könnte genau im richtigen Moment eingreifen, um ihn zu vereiteln. Es hörte sich gut an, aber es würde nicht klappen.
»Die Polizei wird noch in der Nacht losschlagen. Wir haben zu wenig Zeit«, sagte Vannoni. Er wurde sich bewusst, dass er nun selbst das Wort »wir« benutzt hatte.
»Worauf warten wir dann noch?«, fragte Antonietta. Sie war schon dabei, ihre Stiefel anzuziehen.
»Antonietta …«, sagte Vannoni.
»Hm?«
»Danke!«, sagte Vannoni. »Aber ich glaube wirklich, dass es besser ist, wenn du …«
»Jetzt komm schon!« Antonietta stand bereits an der Tür und öffnete sie einen Spalt. Die Durchsage war immer noch zu verstehen, doch deutlich leiser als zuvor. Der Lautsprecherwagen musste sich unterhalb der Bar befinden, wahrscheinlich in der Gasse, die am Abhang entlang zum Tor führte. Auch Vannoni spähte nun hinaus. Der Himmel war sternenklar. Das Licht der Laternen spiegelte von der nassen Straße wider. Die Polizei musste frisch gestreut haben, denn es war so klirrend kalt, dass sich schon längst eine Eisdecke gebildet haben sollte. Die Drohung mit den bewaffneten Patrouillen schien nicht sehr ernst gemeint zu sein, jedenfalls war bis zur Kurve am Kirchturm keine Menschenseele zu sehen.
»Los!«, flüsterte Antonietta und huschte quer über die Straße. Vannoni hatte gar keine Wahl als hinterherzustolpern. Sie würde ihren Plan sonst allein durchziehen. Gerade mal ein paar Minuten hatte sie gebraucht, um ihn auch praktisch anzupacken. Und wie lange hatte Vannoni sich den Kopf zerbrochen? Wie lange hatte er sich in seiner Wut und Verzweiflung selbst gelähmt, hatte sinnlose Medienstrategien entworfen und den Linksradikalismus seiner Jugend verteidigt? Noch vor zehn Minuten war er drauf und dran gewesen, sich ein paar Molotow-Cocktails zusammenzubasteln.
Danke, Antonietta!, dachte er. Wie auch immer diese Nacht endete, er würde ihr das nicht vergessen.
Ein ganzes Stück kamen sie gut voran, aber kurz vor ihrem Ziel stießen sie doch noch auf eine Patrouille. Wenn nicht einer der Polizisten gehustet hätte, wären sie ihnen an der Abzweigung hinter Franco Marcantonis Haus direkt in die Arme gelaufen. Zum Glück hatte Franco nicht abgesperrt. Das hatte er früher nie für nötig
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