Die Augen der Medusa
krampfte, wie die Finger der linken sich in das Haar seines Opfers krallten, ließ spüren, dass der Rausch des Tötens noch in ihm nachebbte. Dieser Mann wirkte nur nachdenklich, weil er überrascht und fasziniert von der Macht war, die er sich genommen hatte. Selbstzweifel spürte er keinesfalls. Vielleicht begann ihm gerade zu dämmern, welche Lust es bereitete, wie ein Gott über Leben und Tod anderer zu entscheiden.
Operation Medusa. Wenn Marisa diesen Decknamen vergeben müsste, dann für eine Aktion gegen selbstgerechte Machtmenschen, denen Gut und Böse gleich viel bedeuten. Entsprachen dem die Brigadisten mit ihrer Vision einer neuen Gesellschaft, die ohne Rücksicht herbeigebombt werden musste? Oder doch eher korrupte Politiker, die für ihren Vorteil ihre eigene Seele verkauften? Und wofür stand die Medusa selbst? Marisa vermochte ihren Blick nicht von dem abgeschlagenen Haupt in Perseus’ brutalem Griff zu wenden. In Stein wurde sie dabei nicht verwandelt, aber es flimmerte ihr ein wenig vor den Augen. Je intensiver sie hinstarrte, desto mehr verschwammen die Konturen. Es schien fast, als wolle sich ein anderes, genauso lebloses Gesicht durch die toten Züge drängen. Ja, die Medusa war nur eine Maske, die das bleiche Gesicht eines siebzehnjährigen Jungen durchschimmern ließ. Das Gesicht von Minh Vannoni.
Herr im Himmel, bei all ihren Rekonstruktionsversuchen hatte Marisa sein Schicksal völlig ausgeklammert.Und sie wusste auch, warum. Sie hatte sich nicht eingestehen wollen, was doch offensichtlich war. Minh war tot. Es konnte gar nicht anders sein. Die Killer hatten Malavoglia ermordet, damit er nicht in den Besitz von sie gefährdenden Informationen gelangte. Warum sollten sie den leben lassen, der diese Beweise liefern wollte? Der Hauptzeuge und das Material mussten auf jeden Fall verschwinden, sonst wäre die Ermordung Malavoglias sinnlos gewesen. Ein anderer Staatsanwalt, der Anklage erhob, würde sich immer finden, solange es etwas gab, worauf er sich stützen konnte.
Marisa betrachtete den verkrümmt liegenden Körper der Medusa, über den Perseus hinwegschritt. Wahrscheinlich war Minh sofort umgebracht worden, als die Attentäter sein Büro besetzt hatten. Dann tauchten die Polizisten auf, um ihn zu befragen, entdeckten vielleicht die Leiche und wurden deswegen gefangen genommen. Seit Tagen schon war der Junge tot. Alles Hoffen und Bangen war vergebens gewesen, reine Augenwischerei fern der grausamen Wirklichkeit.
Marisa klappte die Enzyklopädie zu, nahm sie unter den Arm und entriegelte die Badezimmertür. Man musste es Matteo Vannoni sagen. Und den anderen, die vorhatten, sich in die bevorstehende Schießerei zwischen Sondereinheit und Geiselnehmer zu stürzen. Es hatte keinen Sinn, das eigene Leben zu gefährden, denn den Jungen konnte niemand mehr retten.
Als anfangs der 1960er Jahre der Mont-Blanc-Tunnel gebaut worden sei, habe man von beiden Seiten zu graben begonnen, von der französischen und der italienischen. Insgesamt elf Kilometer hätten sich die Maschinen durch den Berg gefräst, sagte Franco Marcantoni, und dann, eines Tages, wenn man davon bei der ewigen, nur künstlich erleuchteten Dunkelheit sprechen könne, sei das letzte Stück Fels zwischen den Stichgrabungen gefallen. Fast zentimetergenauwären die beiden Gruppen zusammengetroffen. Praktisch keine Abweichung nach links oder rechts, nach oben oder unten habe es gegeben. Und das ohne GPS und den ganzen neumodischen Kram! Das müsse man sich mal vorstellen!
»Erstaunlich«, sagte Angelo Sgreccia.
Das sei keineswegs erstaunlich, plapperte Franco weiter, sondern das vorhersehbare Ergebnis ausgeklügelter mathematischer Berechnungen im Zusammenspiel mit genauesten und penibel angewandten Messverfahren. Vor den Ingenieuren und Technikern habe er jedenfalls den allergrößten Respekt, und er glaube durchaus, dass es auch heute nicht schaden könne, die erfolgreichen Prinzipien von damals zu beherzigen.
»Das war der Mont-Blanc-Tunnel. Wir graben bloß ein paar Meter weit«, sagte Ivan Garzone.
»Ja und?«, murrte Franco. »Tunnel ist Tunnel.«
»Und drüben erwartet uns ein großer Keller. Den können wir gar nicht verfehlen, egal, ob wir ein paar Zentimeter von der direkten Linie abkommen.«
»Jeder Umweg kostet Kraft und Zeit!« Franco ließ sich auf die Knie hinab, schob das letzte verbliebene Brett von Angelos Weinregal in die Tunnelöffnung und kroch mit Wasserwaage und Taschenlampe hinterher. Es dauerte ein
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