Die Augen der Medusa
des Landes oder der extreme Rand der Gesellschaft? Wem war Malavoglia mit seiner Operation Medusa auf der Spurgewesen? Marisa wusste es nicht. Beides schien ihr möglich, doch Möglichkeiten genügten nicht. Sie wollte die Wahrheit herausfinden, und zwei Wahrheiten, die sich ausschlossen, waren genauso viel wert wie gar keine. Marisa brauchte eine Pause. Und noch einmal eine Tasse Tee. Kamille oder Pfefferminze? In den halbtransparenten Beuteln sahen die getrockneten Kräuter zum Verwechseln aus. Erst wenn man sie überbrühte, zeigte sich der Unterschied. Oder man las einfach das Etikett am anderen Ende des dünnen Fadens.
Operation Medusa. Vielleicht hatte Malavoglia den Decknamen nicht zufällig gewählt, so dass man aus ihm die Wahrheit erschließen konnte. War die Medusa nicht eine Gestalt aus der griechischen Mythologie? Eine Art Hexe, deren fürchterlicher Blick jeden zu Stein erstarren ließ? Mit Korruption hatte das jedenfalls nichts zu tun. Zum Thema Terrorismus mochte man eine Verbindung konstruieren, aber sehr zwingend schien sie nicht. Vielleicht sollte sich Marisa erst genauer über die griechische Sage informieren. In Catias Haus kannte sie sich inzwischen aus. Ein paar alte Kinderbücher von Minh standen herum, doch kein Nachschlagewerk wie der dreibändige Rizzoli, den sie zu Hause hatte. Donato hatte ihn ihr einmal geschenkt. Zu Zeiten, als er sich noch Gedanken gemacht hatte, was ihr Freude bereiten könnte.
Marisa zog sich an und trat auf die Gasse hinaus. Sie war noch nicht daheim angekommen, als der Lautsprecherwagen der Polizei wieder seine Runden zu drehen begann. Die Ausgangssperre würde auch diese Nacht gelten. In einer halben Stunde, nach Einbruch der Dunkelheit, durfte sich niemand draußen sehen lassen. Bis dahin säße Marisa jedoch längst wieder auf Catias Sofa. Sie überlegte, mit welchen Worten sie ihrem Mann verdeutlichen sollte, dass er sich keine falschen Hoffnungen zu machen brauche. Sie kam nicht wegen ihm zurück und würde das auch in Zukunft nicht tun. Donato war aber sowieso nicht da. ImWohnzimmer hatten es sich dagegen vier Leute von Canale 5 gemütlich gemacht. Sie sprangen auf, als Marisa eintrat.
»Heute Nacht werden sie stürmen. Hundertprozentig!«, sagte einer von ihnen, als würde das erklären, warum sie im Kamin Feuer gemacht hatten und ihren Wein aus Marisas Gläsern tranken. Wenn es überhaupt ihr eigener Wein war.
»Sie haben dem Geiselnehmer ein Ultimatum gesetzt«, sagte ein anderer. »Bis 23 Uhr. Aber wir glauben, dass sie ihn reinlegen wollen. Sie werden vorher losschlagen, schon um zu verhindern, dass er noch in letzter Minute weitere Geiseln ermordet.«
Marisa ging wortlos zwischen ihnen durch, griff sich den mittleren Band der Enzyklopädie und schloss sich damit im Badezimmer ein. Rund um das Waschbecken lag Rasierzeug herum, das nicht Donato gehörte. Marisa warf Einwegklinge, Pinsel und Rasierschaumtube in den Abfalleimer. Sie widerstand dem Drang, das Waschbecken zu säubern, setzte sich auf den Rand der Badewanne und schlug den Rizzoli bei »M« auf.
Die Medusa war die einzig sterbliche der drei Gorgonen. Ursprünglich war sie schön gewesen, hatte jedoch Pallas Athene erzürnt und war deswegen in ein Ungeheuer mit Schlangenhaaren, langen Eckzähnen und heraushängender Zunge verwandelt worden. Nicht der Blick ihrer glühenden Augen tötete, sondern ihr Gesicht war so entsetzlich, dass man bei seinem Anblick zu Stein erstarrte. Deshalb konnte der Held Perseus sie nur besiegen, indem er sie nicht direkt ansah, sondern ihr Abbild, das sich in seinem Schild spiegelte. Er enthauptete sie mit einem gezielten Schwerthieb. Auch der abgeschlagene Kopf behielt seine fürchterliche Eigenschaft, so dass Perseus ihn später als tödliche Waffe verwendete.
Neben dem Lexikonartikel zeigte eine Abbildung die berühmte Perseusstatue von Benvenuto Cellini. Die tote Medusa lag zu Füßen des Helden, der ihren Kopf triumphierenddem Betrachter entgegenhielt. Marisa schauderte. Dabei sah das Gesicht der Medusa gar nicht entsetzlich aus. Im Gegenteil, in seiner traurigen Starrheit rührte es eher an. So, als habe diese Frau mit den fast männlichen Zügen in ihrer Verzweiflung, dass niemand sie ansah, schon lange darauf gewartet, abgeschlachtet zu werden.
Das Grauen, das Marisa empfand, entsprang aus der Haltung des nackten Helden. Zwar hielt er den Kopf gesenkt, als schäme er sich seiner blutigen Tat, aber wie sich seine rechte Hand um den Schwertgriff
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