Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
Vom Netzwerk:
mich«, sagte David. Ein Spaziergang mit David war das letzte, worauf er Lust hatte, aber er traute sich auch nicht, nein zu sagen. »Haben Sie die Taschenlampe?«
    »Die brauchen wir nicht, der Mond scheint.«
    Sie gingen hinunter zum Auto, wandten sich dann nach links und bogen in die unbefestigte Straße ein, die erst durch den Wald und zwei Meilen weiter auf den Highway führte.
    »Der Mond ist gerade halb voll«, sagte David. »Darf ich Sie zu einem kleinen Experiment überreden? Sie gehen voraus, hier, wo es relativ hell ist, und ich werd sehen, wie gut ich Sie auf zirka dreißig Meter Entfernung erkennen kann. Machen Sie große Schritte und zählen Sie bis dreißig. Sie wissen schon, es geht um diese Sache mit Faro.«
    Penn nickte. Er wußte Bescheid. David dachte wieder an sein Buch, und wahrscheinlich würden sie heute abend, nach dem Spaziergang, noch ein paar Stunden daran arbeiten. Penn begann zu zählen und schritt kräftig aus.
    »Gut so, nur weiter!« rief David hinter ihm.
    Achtundzwanzig … neunundzwanzig … dreißig. Penn 298
    blieb stehen und wartete. Als sich nichts rührte, drehte er sich schließlich um. David war nicht zu sehen. »He! Wo sind Sie?«
    Keine Antwort.
    Penn lächelte spöttisch und vergrub die Hände in den Taschen. »Was ist, David? Sehen Sie mich noch?«
    Stille. Penn ging langsam zum Ausgangspunkt zurück.
    Ein kleiner Scherz, vermutete er, ein schlechter Scherz, aber er beschloß, ihn trotzdem mit Humor zu nehmen.
    Er kehrte zur Hütte zurück, überzeugt, daß David dort schon gedankenverloren auf und ab marschieren und über seinem Text brüten würde. Vielleicht diktierte er bereits die nächste Szene auf Band. Aber der Hauptraum war leer.
    Aus dem Eckzimmer, in dem sie für gewöhnlich arbeiteten, drang kein Laut, und auch hinter der geschlossenen Tür von Davids Schlafzimmer war alles still. Penn zündete sich eine Zigarette an, griff nach der Zeitung und setzte sich in den Lehnstuhl. Er konzentrierte sich bewußt auf die Nachrichten, rauchte seine Zigarette zu Ende und steckte sich eine zweite an. Auch die war aufgeraucht, als er, gereizt und doch auch ein wenig ängstlich, seinen Platz verließ.
    Er trat vor die Tür und rief ein paarmal laut Davids Namen. Dann ging er zum Wagen und vergewisserte sich, daß niemand drin saß. Anschließend durchsuchte er methodisch jeden Raum der Hütte, ja, er schaute sogar unter den Betten nach.
    Was hatte David vor? Wollte er sich bei Nacht zurück-schleichen und ihn im Schlaf umbringen? Nein, das war 299
    verrückt, so verrückt wie einer von Davids Einfallen für seine Bücher. Penn mußte unwillkürlich an seinen Traum denken und an das kurze, aber dafür um so lebhaftere Interesse, das David daran bekundet hatte, als er ihn beim Abendessen erzählt hatte. »Wer war denn der Mann bei Ihnen?« hatte David gefragt. Doch im Traum hatte Penn seinen Weggefährten nicht identifizieren können. Er war nur ein schattenhafter Begleiter auf einem Spaziergang gewesen. »Vielleicht war ich es ja«, hatte David gesagt und seine blauen Augen blitzen lassen. »Vielleicht wünschen Sie sich insgeheim, daß ich verschwinde, Penn.« Weder er noch Ginnie hatten etwas darauf geantwortet, und auch später, als sie allein waren, hatten sie nicht über Davids ge-wagte Behauptung gesprochen. Außerdem war es schon so lange her, über zwei Monate.
    Penn verwarf die Parallele zu seinem Traum als unsinnig. Nein, wahrscheinlich war David zum See hinuntergegangen, weil er eine Zeitlang allein sein wollte, hatte es unhöflicherweise aber nicht für nötig gehalten, ihm Bescheid zu sagen. Penn spülte das Geschirr, duschte sich und kroch in sein Stockbett. Da war es zehn nach zwölf.
    Auch wenn er es nicht für möglich gehalten hätte: In weniger als zwei Minuten war er fest eingeschlafen.
    Um halb sieben weckte ihn ein Flug Enten mit seinem heiseren Schnattern. Er warf seinen Morgenmantel über und ging ins Bad. Davids Handtuch hing noch genauso da, wie er es gestern abend über den Ständer gelegt hatte. Penn ging zu Davids Zimmer und klopfte. Dann öffnete er die Tür einen Spaltbreit. Die beiden Stockbetten waren unberührt.
    Penn wusch sich eilig, zog sich an und ging nach draußen.
    300
    Er schritt den Weg, den er zuletzt mit David gegangen war, auf beiden Seiten ab und suchte im feuchten Kiefern-nadelteppich nach Fußspuren. Dann lief er hinunter zum See und streifte die sumpfige Uferböschung entlang; kein Schuhabdruck, keine

Weitere Kostenlose Bücher