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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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mal zwei und zwei zusammenzählen! Er hat noch nie was anderes gekonnt als sich herumtreiben und großspurige Reden schwingen!« Rose hätte noch ganz andere Dinge gesagt, wenn sie nicht in gewisser Hinsicht froh gewesen wäre, daß Winnie einen Buchhalter einstellte, selbst einen schlechten. Es schmerzte sie, daß man in Bingley darüber sprach, daß Winnie keinen einzigen Verkäufer in seinem Laden hatte und sommers wie winters so spät nach Hause kam, weil er nach Laden-schluß noch die Buchhaltung machen mußte. Rose hatte ehrgeizige Pläne gehabt, als sie nach Bingley gekommen waren. Nach und nach hatte sie sich von den meisten verabschiedet, doch noch immer ersehnte sie sich einen Kühlschrank und eine neue Nähmaschine, die elektrisch betrieben wurde. Aber wenn sie Richard jetzt jede Woche fünfundzwanzig Dollar auf die Hand zahlen mußten, konnte sie diese Träume bis auf weiteres begraben.
    Richard hatte kein Händchen für die Buchhaltung, nicht einmal für das Rechnen. Er saß den ganzen Tag über seinen Schreibtisch hinten im Laden gebeugt und tat so, als schreibe er, während er nur die Ränder der Seiten vollkrit-zelte und Pläne schmiedete, wie er an Geld kommen und dem trübseligen Bingley den Rücken kehren könne. Statt Winnie beim Verkaufen zu helfen, pflegte Richard bei den seltenen Anlässen, wenn sich mehr als ein Kunde blicken ließ, zu verschwinden, entweder auf die Toilette oder zur 88
    Hintertür hinaus. Er versuchte, in Bingley Bekanntschaften zu knüpfen, und war nicht daran interessiert, daß jedermann wußte, daß er für seinen Bruder arbeitete. Wenn Richard sich der Ladentheke näherte, dann nur, um sich eine neue Krawatte auszusuchen oder sich ein frisches Paar Socken zu besorgen.
    So kam es, daß Winnie schon bald seine Buchhaltung wieder selbst machte und um zehn Uhr abends durch kniehohen Schnee nach Hause stapfte, vor Erschöpfung so vornübergebeugt, daß er kleiner und unbedeutender aussah als je zuvor. Doch er sagte Rose nie etwas davon, daß Richard sich als Tunichtgut entpuppt hatte, und zahlte ihm weiterhin fünfundzwanzig Dollar in der Woche fürs Nichtstun. Rose verlangte nur zehn Dollar für Kost und Logis, und Richard aß mehr als sie und Winnie zusammen.
    Richard nahm zu, und die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück.
    »Ich glaube nicht, daß er noch lange bei uns bleiben wird«, sagte Winnie.
    »Hat er gesagt, wann er geht?« fragte Rose hoffnungs-voll.
    »Nö, aber so was spüre ich.«
    »Wenn er geht, durchsuchst du ihn besser rechtzeitig«, warnte ihn Rose.
    Doch das hätte gar nichts genützt, denn Richard verabschiedete sich eines schönen Tages – von Winnie und Rose zum Bahnhof begleitet und mit einem Lunchpaket aus ge-bratenem Hühnchen und Biskuitkuchen versehen – im Besitz von Wertgegenständen, die er nicht am Körper trug: 89
    siebenhundertfünfzig Dollar, die er von Winnies Firmen-konten an eine Bank in New York City überwiesen hatte.
    Winnie entdeckte den Verlust erst einen Monat später. Und er sagte Rose nichts davon.
    Das war kurz vor Weihnachten; jedes Jahr, seit er in Bingley lebte, hatte Winnie um die hundert Dollar für eine Weihnachtsfeier und Geschenke für die Kinder des Waisenhauses ein paar Meilen außerhalb der Stadt beiseite gelegt. Diese Feiern kosteten ihn obendrein jedesmal seine Spielzeugvorräte. Und auch in diesem Jahr gelang es ihm, trotz der von Richard unterschlagenen siebenhundertfünfzig Dollar hundert Dollar Bargeld zusammenzukratzen, um Süßigkeiten und Plätzchen zu kaufen und den Pferde-schlitten zu mieten, in dem er die Waisenkinder zu sechst und zu acht spazierenfuhr. Rose schimpfte nicht, daß Winnie dieses Geld für die Kinder ausgab. Sie war glücklich, wenn sie sah, wie sein verhärmtes, müdes Gesicht strahlte, sobald er mit den Zügeln in der Hand umringt von Kindern im Schlitten saß und der Wind den Pelz seiner Waschbärfellmütze glattblies, während er die Pferde zungenschnalzend zu einem munteren Trab anspornte.
    Rose wußte, wie sehr ihm eigene Kinder fehlten.
    Im Winter des Jahres, das Richards Kommen und Gehen gesehen hatte, gab es starken Schneefall und frühes Tauwetter, das alle überraschte und Winnie ganz besonders.
    Waren im Wert von dreitausend Dollar – Woll- und Baum-wollstoffe, Drillichhemden, Nägel und was sonst noch an den Kellerwänden gelagert war – wurden durch Schimmel und Rost verdorben. Das Tauwetter war nicht allein schuld.
    Winnies Keller war schon immer feucht gewesen. Winnie

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