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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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war
    zweiundfünfzig und ein müder, spindeldürrer alter Mann, bevor er sein zweistöckiges Haus an der Independence Street abbezahlt hatte.
    Und selbst das war nur möglich um den Preis, den Laden nicht anstreichen oder das Dach decken oder den Keller abdichten zu lassen oder irgend etwas zu tun, wie es einem ehrbaren Warenhaus anstand. Genau wie Winnie sah der alte, mittelgroße arme Schlucker von einem Laden auf der Flußseite der Main Street weit älter aus, als er war. Der rötliche Anstrich war zu einem fleckigen Braun verwittert, und fast alle der vergoldeten Buchstaben auf dem Laden-schild von HAZLEWOOD'S GENERAL MERCHANDISE waren abgeblättert, so daß man den Namen nur entziffern konnte, wenn man ihn bereits kannte. Trotzdem war der Laden aus Bingley nicht mehr wegzudenken, und die meisten Frauen kauften ihr Nähzubehör nirgendwo anders, nicht einmal in Bennington. So niedrig der Pegelstand von Winnies Konto auch sein mochte, erreichte er doch nie ganz Ebbe, und Winnie und Rose hatten zu essen, wenn auch nicht viel, wollte man nach Winnies Aussehen schließen. Er hatte die Figur eines mageren Vierzehnjährigen; er war nicht groß 85
    und ging gebeugt. Sein Gesicht war glattrasiert und völlig nichtssagend – eine Nase, die nichts weiter war als eine Nase, ein Mund, sanft wie ein Schafsmaul, und ruhige, aber müde graue Augen, die unter völlig gewöhnlichen braunen Augenbrauen hervorsahen. Sein Vater war früh kahl geworden, doch Winnies glattes, braungraues Haar wuchs hartnäckig so dicht wie eh und je, links gescheitelt und ihm ein wenig in die Stirn hängend, wie man es seit seiner Kindheit an ihm gewohnt war. In einer größeren Stadt wäre Winnie den wenigsten aufgefallen, doch in Bingley kannte ihn jeder, und jeder sprach ihn auf der Straße an, so als wäre er in einer Kleinstadt wie Bingley gerade wegen seiner Gewöhnlichkeit etwas Besonderes.
    Mit der Buchhaltung seines Ladens war er bis neun Uhr abends und später beschäftigt; um diese Zeit brachten die jungen Männer von Bingley ihre Mädchen von dem Siebenuhrfilm im Orpheus nach Hause. Alle sagten Winnie im Vorbeigehen guten Abend, und wenn im Hinterzimmer des Ladens noch Licht war, sagten sie: »Vermutlich ist Winnie noch bei der Arbeit, der arme Kerl.« Und wenn sie ihn nicht sahen und kein Licht war, bemerkten sie, daß Winnie offenbar ausnahmsweise früh nach Hause gegangen war. Kurzum, Winnie war in Bingley kein Niemand, kein Rädchen in einer Maschine, wie es viele Großstadt-bewohner waren. Doch er war sich sehr wohl bewußt, daß er es nicht halb so weit gebracht hatte wie die meisten in Bingley, obwohl er doppelt soviel arbeitete wie die meisten.
    Neben der Pech- oder zumindest nicht gerade Glücks-strähne, die ihn jahrelang begleitete, widerfuhren Winnie 86
    einige Schicksalsschläge, die wirklich außergewöhnlich waren. So, als sein älterer Bruder in Bingley auftauchte, fünfzig Jahre alt und bankrott. Das letztemal hatte Winnie von Richard gehört, als dieser mit mexikanischen Minen an der Börse eine Viertelmillion Dollar gemacht hatte.
    Richard hatte Winnie einen triumphierenden Brief geschrieben und ihm mitgeteilt, er stehe im Begriff, sich ein Dorf in Mexiko zu kaufen und sich dort zur Ruhe zu setzen. Der Richard, der in Bingley auftauchte, war ein Schatten seiner selbst. Er hatte all sein Geld in eine Silbermine gesteckt, in der nichts gefördert wurde, hatte mit Verlust verkauft und den Verkaufserlös in einem Casino in Mexico City verspielt. Richard bat Winnie um Arbeit in seinem Laden. Winnie sagte, Richard könne ohne weiteres bei ihm wohnen, aber im Laden könne er ihn nicht brauchen. Es gab nicht genug Arbeit, und die Einnahmen waren zu gering, als daß er jemandem ein Gehalt zahlen konnte. Doch Richard ließ nicht locker.
    »Verstehst du was von Buchhaltung?« fragte Winnie.
    »Selbstredend! Klar verstehe ich was davon. Zahlen waren doch schon immer mein Spezialgebiet, stimmt's?«
    Richard wedelte dabei unbestimmt mit den Händen, und ein Schatten seines munteren Lächelns spielte auf seinen Zügen.
    »Einen Buchhalter könnte ich schon brauchen«, sagte Winnie. »Aber ich kann dir nicht mehr zahlen als – sagen wir, fünfundzwanzig Dollar die Woche.«
    Richard war einverstanden. »Ich helf dir auch beim Bedienen«, sagte er.
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    Rose war außer sich. »Richard, der dir nie einen Cent gegeben hat!« sagte sie zu Winnie.
    »Nun ja, ich hab ihn nie um einen gebeten«, erwiderte Winnie.
    »Ich wette, er kann nicht

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