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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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trat, um ihr an der Haltestelle Hyde Park Corner, wo sie immer umstieg, den Vortritt an dem roten Doppel-deckerbus zu lassen, und dann schlief sie ein.
    Zwei Tage später reiste Esther nach England ab. Sie hatte Tom Bradley telegrafiert, daß sie komme, und er hatte zurücktelegrafiert, daß er sie am Flughafen abholen werde. Richard gab sich bis zuletzt abwechselnd unbeteiligt und überzeugt, sie werde es sich bald anders überlegen und zurückkehren. Esther bemühte sich gar nicht erst, darauf einzugehen. Doch als sie sich am Flughafen von ihm verabschiedete, lächelte sie. Sie war so glücklich über 81
    ihre Freiheit! – »Adieu«, sagte Richard und versuchte, mit Ton und Blick auszudrücken, was zu sagen er zu faul oder zu selbstsüchtig war. Esther schüttelte ihm die Hand und sagte: »Adieu, Richard«, doch sie sah geradewegs durch ihn hindurch, und seine knochige Hand hätte ebensogut Staub sein können.
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    Zum Versager geboren

    Manche Männer sind für den Erfolg geboren, wie die Funken nach oben fliegen. Manche machen das erste Geld als Fünfjährige mit Limonaden für Pfennigbeträge, legen sich zurück, was sie als Fünfzehnjährige beim Gebraucht-wagenhandel verdienen, und wenn sie fünfzig sind, rauschen die Tausender nur so herein, die sie mit Erdöl machen, mit Baumwolle, Windeldiensten, tiefgefrorenen Käsesnacks – kurz: mit allem, woran sie ihre goldenen Hirne verwenden, und wenn auch noch so oberflächlich.
    Winthrop Hazlewood gehörte nicht zu ihnen. Winnie war der geborene Versager. Auf dem Foto, das ihn zusammen mit seinem älteren Bruder (der bereits als Zehnjähriger erfolgsgewohnt aussah) in einem Ziegenwägelchen zeigt, sieht er schon als Fünfjähriger wie ein Versager aus; das Foto steht heute noch auf dem Klavier in Winnies Haus in Bingley, Vermont. Ein anderes Bild auf dem Klavier zeigt Winnie als Einundzwanzigjährigen mit den anderen Absolventen seines College; er ist der fünfte von links in der letzten Reihe, unaufdringlich und mit Arme-sündermiene, als schäme er sich allen Ernstes, mit auf das Foto geraten zu sein.
    Doch Winnie hatte ein Ziel, schon mit einundzwanzig.
    Er wollte eine Gemischtwarenhandlung eröffnen. Es war bezeichnend für ihn, daß er nie von einem »Warenhaus«, sondern immer von einer »Gemischtwarenhandlung«
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    sprach. Winnie wollte in einer Kleinstadt leben. Er wollte das Gewerbe erlernen, indem er als Lehrling in einem Warenhaus in seiner Heimatstadt Bennington arbeitete, und danach einen eigenen Laden eröffnen. Im siebten Lehrjahr wurde seine Verlobte Rose Adams sein ewiges Lehrlings-dasein leid und verfrachtete ihn von seiner Stelle und von Bennington nach Bingley-on-the-Dardle, wo er seinen eigenen Worten zufolge schon immer hatte leben wollen.
    Winnie hatte ein paar Dollar gespart, und Rose bekam von ihrem Vater tausend Dollar als Mitgift und zusätzliche tausend Dollar für den neuen Laden. Winnie brauchte über fünf Jahre, um Mr. Adams die tausend Dollar samt Zinsen zurückzuzahlen. Mittlerweile war Winnies erstes und einziges Kind Mary geboren und im zweiten Lebensmonat gestorben. Der Arzt sagte, Rose dürfe nie wieder ein Kind bekommen. Winnie war tief enttäuscht, denn er liebte Kinder, doch Rose ließ er seine Enttäuschung nie merken.
    Er war ein Mensch, der sich in sein Schicksal fügte.
    Winnie hatte sich einen Laden gewünscht, der haupt-sächlich Männerkleidung verkaufte, und zwar Arbeits-kleidung, weil Bingley eigentlich ein Bauerndorf war und Dinge wie Bänder, Knöpfe, Nägel und Hämmer, Dinge, wie man sie jeden Tag benötigte, wie Winnie sagte. Rose brauchte nicht lange, um zu begreifen, daß es schon zwei Läden in Bingley gab, die diese Artikel führten, und daß dem Ort ein gutsortiertes Textiliengeschäft fehlte. Winnie befolgte ihren Rat und führte hinfort alles von Kattun- bis zu schweren Wollstoffen. Er führte auch
    Kurzwaren, Seife, Schreibwaren, Spielzeug, Überschuhe, Wasserfilter und Bohnerwachs. Die letztgenannten 84
    Artikel variierten, weil Winnie mit Vorliebe Sonderposten jeglicher Art kaufte, die Vertreter ihm anboten. Und die Geschäfte gingen zäh, wie Rose immer wieder betonte, weil niemand wissen konnte, was Winnie gerade im Sortiment führte. Kam man, um einen zweiten Karton Seife zu kaufen, hatte er keinen mehr vorrätig; das war nicht der Weg, sich Stammkundschaft zu sichern. Die Frauen in Bingley nähten alle, doch sie waren einfach nicht zahlreich genug, um Winnie reich zu machen. Winnie

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