Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
Vom Netzwerk:
unverwandt angestarrt; 78
    unvermutet drehte er sich um und schaute sie an, und Esther sah das fröhliche, triumphierende Lächeln, das zu sagen schien: »Tja, meine Liebe, was jetzt?« Und noch während sie ihn ansah, legte er Frieda vertraulich den Arm um die Schulter, und beide lachten ausgiebig. Esther versuchte einen Augenblick abzupassen, in dem sie mit Richard unter vier Augen sprechen konnte, um ihm zu sagen, daß sie mit ihm sprechen wolle, sobald die Gäste gegangen waren. Es war nicht nötig, ihm das explizit zu sagen, doch Esther verspürte das dringende Bedürfnis danach, weil sie dringend Richard die gute Laune verderben wollte.
    Doch mit dem letzten Trüppchen Gäste verdrückte er sich, während er Esther zurief: »Ich bringe ein paar Leute nach Hause, Esther. Bis nachher.« Zu den Leuten zählte Frieda, wie Esther sah. Über eine Stunde später war Richard noch immer nicht zurück; Esther wußte, daß er sagen würde, er sei mit den Bernsdorfs auf ein letztes Glas im Schwarzwälder eingekehrt – wenig glaubwürdig angesichts der Freigebigkeit, mit der er Cognac ausgeschenkt hatte.
    Mit Befriedigung registrierte sie, daß es Viertel vor eins war. Friedas Mitbewohnerin würde bald nach Hause kommen, und Esther hoffte voller Erbitterung, daß sie Frieda und Richard in einer peinlichen Situation überra-schen würde. Andererseits, dachte sie, war die Frau vielleicht längst eingeweiht, vielleicht sogar Komplizin, wenn sie aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie Frieda.
    Weitaus wahrscheinlicher.
    Richard erschien kurz nach ein Uhr; er schloß die Haustür leise, als hoffe er, sie liege bereits im Bett und 79
    schlafe. Als er sie im Wohnzimmer antraf, war er verblüfft.
    – »Warum kommst du erst jetzt?« fragte Esther. Es war genau das, was sie nicht hatte sagen wollen. – »Oh, die Bernsdorfs wollten noch ein Glas trinken. Wir waren in der Spinne, einer komischen kleinen Bar.« – »Ich glaube dir kein Wort. Du warst bei Frieda.« Richards Miene war so ungläubig und verblüfft, als hätte er soeben begriffen, daß Esther über hellseherische Fähigkeiten verfügte. –»Du mußt mir nichts vorlügen, Richard. Ich weiß jetzt Bescheid. Es wäre mir lieber, wenn du es einfach zugeben würdest und auch, daß du sie jeden Tag nach der Arbeit besuchst. Hältst du mich für zu dämlich, um zu wissen, wann deine Firma abends zumacht?« Um Richards schmale Lippen spielte ein verlegenes Lächeln. Schuldbewußt strich er sich über den Schnurrbart. »Nun ja, Esther. Es stimmt. Wenn du es unbedingt wissen willst.« Er lächelte dreister. – »Und was soll ich jetzt tun?« fragte Esther. Sie zitterte, obwohl sie spürte, daß sie tief in ihrem Inneren so fest und hart wie Stein war. – »Tja«, er streckte seine knochigen Hände aus, »tu das, was du tun willst, meine Liebe«, sagte er in fast zärtlichem Ton, doch seine Worte verrieten Esther, daß es ihn nicht kümmerte, ob sie litt, ob sie blieb oder ging, und sie verabscheute ihn. Er kam ihr eher wie eine Maschine vor als wie ein Mensch, eine Maschine, die in ihren alten Trott zurückgefunden hatte und ihr gegenüber blind und taub war, als hätte es ihr gemeinsames Leben in London nie gegeben. Esther wußte plötzlich, daß sie ihn nie wieder berühren, ihn nicht einmal wiedersehen wollte. Er öffnete den Mund, doch sie sagte, es gebe nichts mehr zu besprechen. Richard ging nach oben.
    80
    Esther rief das Hausmädchen und ließ sich auf dem Sofa ein Bett herrichten. Sie wollte nicht einmal in einem der Gästezimmer im ersten Stock schlafen. Schlaflos lag sie mehrere Stunden da und dachte an London und ihre Londoner Freunde. Sie malte sich aus, wie die Campbeils und Tom Bradley und Edna sie willkommen heißen würden und wie sie alle zusammen in dem Restaurant in der King's Road essen gehen würden. Sie malte sich aus, ihre alte Stelle wiederzubekommen, und träumte von ihrem Londoner Alltagsleben, von ihren bescheidenen Einkäufen auf dem Nachhauseweg, wenn sie in einem Laden am Strand Kekse kaufte. Egal, wie arm sie in England wäre, dort wäre sie glücklich. Esther war zumute, als wäre keine größere Glückseligkeit denkbar als die, ihre armselige Stelle zurückzuergattern, über eigenes Geld zu verfügen und in der Lage zu sein, abends das zu tun, was ihr gefiel. Sie hörte förmlich englische Stimmen um sich herum, die ab-gehackten Rufe der Cockneys auf der Shaftesbury Avenue in der Nähe ihres Büros. Sie sah, wie ein Mann höflich beiseite

Weitere Kostenlose Bücher