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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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zu Winter kam er sich erschöpfter vor.
    Und eines Tages im April, als Winnie einundsechzig Jahre alt war, erhielt er ein Schreiben einer Anwaltskanzlei 93
    in New York. Es besagte, Oliver Hazlewood, ein Onkel Winnies, sei gestorben und habe ihm testamentarisch hunderttausend Dollar vermacht. Es würde ein Jahr dauern, bis das Testament Rechtskraft erlangte, doch nach Abzug von Steuern und Unkosten würde Winnie achtzigtausend Dollar erhalten.
    Winnie und Rose nahmen diese Nachricht sehr gelassen auf, weil keiner von ihnen sich vorstellen konnte, daß sie wirklich wahr sein könnte. Tagelang erwähnten sie das Geld nicht einmal. Schließlich brach Rose das Schweigen und sprach vom alten Oliver Hazlewood, dem sie bei ihrer Hochzeit zum einzigen Mal begegnet war. Rose sagte, es sei sehr nett von ihm gewesen, Winnie so großzügig zu beden-ken, denn soweit sie wisse, habe Winnie ihm nicht sonderlich nahegestanden, oder? Winnie sagte, er habe seinem Onkel überhaupt nicht nahegestanden und er sei sehr gerührt, daß Onkel Oliver ihm so viel Geld hinterlasse.
    Etwas später begannen sie sich darüber zu unterhalten, was sie tun wollten, wenn sie das Geld bekamen. Sie wollten in Florida Urlaub machen. Oder vielleicht in Kalifornien. Möglicherweise würden sie sich sogar in Florida oder Kalifornien ein Haus kaufen.
    »Das würde bedeuten, den Laden aufzugeben«, sagte Winnie.
    Beide saßen eine Minute lang sprachlos da und ver-suchten sich ein Leben ohne den Laden vorzustellen.
    »Wir sind wer, Rose. Jetzt wollen wir das, was uns vom Leben bleibt, in vollen Zügen genießen«, sagte Winnie tapfer.
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    Rose versuchte sich vorzustellen, wie sie das, was ihr vom Leben blieb, in vollen Zügen genoß. Limonade in einer Hängematte. So viele neue Kleider, wie sie wollte.
    Bridgepartys mit Tee und Süßigkeiten, wie sie es aus Romanen kannte. Aber Rose spielte nicht Bridge. Seereisen…
    Sie konnte so vieles tun, daß ihr schwindelig wurde, sobald sie daran zu denken begann.
    Sie beschlossen, Laden und Haus zu verkaufen, sobald das Geld im kommenden Mai kam, mit dem Zug gemütlich die kanadische Grenze entlangzufahren, die sie schon immer hatten sehen wollen, und dann nach Kalifornien zu ziehen. Wohin genau, wußten sie nicht, aber sie hatten von entzückenden kleinen Ortschaften an der Küste südlich von Los Angeles gehört. Bis der nächste Sommer sich einstellte, würden sie genauer wissen, welcher Ort ihren Wünschen am ehesten entsprach.
    Weihnachten kam, und Winnie war so knapp bei Kasse wie eh und je, doch er mietete den Schlitten, belud ihn mit Geschenken für die Waisenkinder und fuhr wie in all den gut dreißig Jahren, die er in Bingley gelebt hatte, am Nachmittag des Heiligen Abends zum Waisenhaus. Doch diesmal erwartete ihn eine Überraschung.
    Über dem Eingangstor des Waisenhauses flatterte ein roter Wimpel, auf dem in Goldbuchstaben stand: FRÖHLICHE WEIHNACHTEN, WINNIE!
    Alle Kinder standen auf der Treppe, und Oberin Schwester Josephine war ebenfalls da. Sobald Winnie anhielt, trat Schwester Josephine vor und überreichte ihm eine kleine Schachtel.
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    »Die Kinder haben gesammelt, um Ihnen dieses Weih-nachtsgeschenk zu kaufen«, sagte Schwester Josephine.
    »Sie haben mich gebeten, es zu überreichen, aber es ist ganz allein ihr Geschenk.«
    Winnie öffnete die Schachtel. Sie enthielt eine goldene Uhr, in deren aufklappbarem Gehäuse Blumengirlanden und auf deren Rückseite seine ineinander verschlungenen Initialen eingraviert waren.
    »Fröhliche Weihnachten, Winnie!« riefen die Kinder.
    Winnie errötete. Er konnte nur daran denken, daß die Kinder Tausende von kostbaren Pennys geopfert hatten, um die teure Uhr zu kaufen, und daß er bald so reich sein würde, daß er sich eine solche Uhr leisten konnte, ohne die Ausgabe überhaupt zu bemerken. Er würde unter vier Augen mit Schwester Josephine sprechen müssen und sie bitten, die Uhr zu verkaufen und den Kindern das Geld zurückzugeben. Doch das hatte natürlich noch ein paar Tage Zeit, bis nach Weihnachten.
    Winnie zeigte Rose die Uhr. Rose sagte, er müsse sie auf jeden Fall behalten. Es gehe um den Geist des Geschenks und nicht um das Geld, sagte sie.
    »Außerdem willst du doch nicht, daß alle in der Stadt erfahren, wie reich wir sein werden – noch nicht –, oder?«
    Das wollte Winnie auf keinen Fall. Die achtzigtausend Dollar machten ihn jedesmal ganz furchtbar verlegen, wenn er daran dachte. Irgendwann würden sie es allen sagen müssen, gewiß,

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