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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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doch Winnie wollte es erst im letzten Augenblick tun und möglichst ohne Aufhebens.
    »Aber Schwester Josephine kann ein Geheimnis für sich 96
    behalten«, sagte Winnie. »Ich muß die Uhr so bald wie möglich zurückgeben, damit sie denselben Betrag zurückbekommen, den sie bezahlt haben.«
    Rose merkte, daß es zwecklos war, mit ihm über diese Uhr zu streiten oder darüber, daß er jetzt schon mit Schwester Josephine sprechen wollte.
    Winnie ging am zweiten Januar zu Schwester Josephine und bat sie, die Uhr zurückzunehmen. Schwester Josephine wollte ihn dazu überreden, sie zu behalten und ihr den Geldwert der Uhr zu geben, wenn er sein Erbe ausgezahlt bekam. Doch Winnie konnte sich nicht dazu durchringen, bis zum Mai zu warten.
    »Die Kinder werden sehr enttäuscht sein«, sagte die Schwester zu ihm.
    »Ich hoffe, sie werden darüber wegkommen«, sagte Winnie. Dann schlich er aus ihrem Büro, gebeugt und klein und demütigeren Herzens, als je ein Kind nach einer Strafpredigt von dannen geschlichen war.
    Schließlich war es Mai, und Winnie erhielt einen Brief von Mr. Hughes in der Anwaltskanzlei, in dem man ihn bat, nach New York zu kommen und die Papiere zu unter-zeichnen und das Geld entgegenzunehmen.
    »Tja, jetzt ist es wohl an der Zeit, Ed zu sagen, daß wir das Haus und den Laden verkaufen wollen«, sagte Winnie.
    Ed Stevens war der Immobilienhändler von Bingley.
    »Das ist es wohl«, sagte Rose.
    Am Nachmittag desselben Tages sprach Winnie mit Ed und sagte ihm den Grund: daß er achtzigtausend Dollar erbe und er und Rose in Kalifornien leben wollten. Inner-97
    halb einer Stunde wußte die ganze Stadt die Neuigkeit. Am Nachmittag war Winnies Laden bis zum Bersten voller Leute, die hereinkamen, um ihm zu gratulieren und ihm die Hand zu schütteln. Aus ihrem Lächeln entnahm Winnie, daß sie es ernst meinten. Er hatte sich Sorgen gemacht, der eine oder andere könnte neidisch sein.
    Am nächsten Tag fuhr Winnie nach New York. Es war erst das zweitemal in seinem Leben, daß er die große Stadt besuchte. Beim erstenmal war er so klein gewesen, daß er sich nicht an viel erinnern konnte, und so war es eine ganz neue Erfahrung für ihn; allein die Taxifahrt – Winnie wäre lieber zu Fuß gegangen, aber er fürchtete, sich zu verirren und bei dem Termin mit Mr. Hughes zu verspäten – von der Grand Central Station zur East Fifty-second Street ließ ihn sich vorkommen wie ein Stück Fichtenholz, das er einmal in einer Sägemühle in Bennington gesehen hatte und das im Handumdrehen entrindet, zugerichtet und in Haushaltsstreichhölzer zerschnitten worden war. Winnie kam sich ungefähr so unbedeutend vor wie eines dieser Streichhölzer, als er den Plüschteppich in Mr. Hughes'
    Büro betrat. Doch Mr. Hughes war unvorstellbar freundlich und nett zu ihm und erklärte alle Papiere, bevor Winnie sie unterschrieb, als wäre Winnie mit solchen Dingen ganz vertraut.
    »Auf welche Bank wollen Sie die achtzigtausend überwiesen haben, Mr. Hazlewood?« fragte der Anwalt. »Oder wollen Sie den ganzen Betrag als Treuhandvermögen ver-walten lassen?«
    Winnie mußte schlucken, als er sich vorstellte, daß achtzigtausend Dollar in der Bank von Bingley landeten.
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    »Meine Frau und ich fahren nach Kanada«, sagte er. »Und danach ziehen wir nach Kalifornien und geben unsere gegenwärtige Bank auf. Vermutlich können Sie mir das Geld nicht bar auszahlen, oder?«
    Mr. Hughes sah einen Augenblick überrascht aus, doch dann lächelte er und sagte: »Selbstverständlich, bis zum Nachmittag wäre das möglich. Aber sind Sie sicher, daß Sie mit so viel Geld in der Tasche nach Vermont zurück-reisen möchten?«
    Winnie hatte eine alte Aktentasche mitgebracht, in der er das Geld wegbringen wollte. »Ich habe noch keinen roten Heller in meinem Leben durch Liegenlassen verloren – und auch nicht durch Überfälle«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.
    Sie vereinbarten, daß Winnie gegen vier Uhr in Mr.
    Hughes' Büro zurückkommen solle, so daß ihm Zeit genug blieb, den Nachtzug nach Vermont um halb sechs zu erreichen. Die Zwischenzeit verbrachte Winnie damit, langsam die Fifth Avenue entlangzuwandern, von der er wußte, daß sie die berühmteste Straße war, die großen Busse zu bestaunen, die bunten Taxis, die vorbeirasten, und die Schaufenster voller kostspieliger Artikel. Ein Fernglas für fünfundachtzig Dollar erregte Winnies Aufmerksamkeit. Er betrachtete es mit dem undeutlichen Verlangen und der großen Distanz, wie sie das

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