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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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ehe er weg war.
    Als Miss Wooster in das Zimmer zurückkam, verstaute er seine Unterlagen bedächtig in der Aktentasche. »Ich habe Ihre Zeit über Gebühr beansprucht«, sagte er bedauernd.
    »O nein! Ich muß leider diese Person jetzt empfangen, weil sie ein Interview mit mir führen will.« Sie lächelte und streckte ihre Hand aus. »Es war sehr nett, Sie kennenzulernen. Ich hoffe, Sie werden Ihr Buch schreiben.
    Sie sagten, Sie hätten an die hundert Seiten?«
    »Ja.« Andy bewegte sich jetzt zum Flur.
    »Wenn Sie irgendwelche Schwierigkeiten haben,
    können Sie mich jederzeit um Rat fragen. Ich unterhalte mich immer gern über mein Lieblingsthema.«
    »Vielen Dank –«
    Die Fahrstuhltür hatte sich geöffnet. Eine hochgewachsene Frau Mitte Dreißig trat langsam heraus und schaute Andy mit merkwürdig fragendem Blick an. Er erwiderte 161
    den Blick, und dann begriff er voller Entsetzen, daß sie die Journalistin war, der er irgend etwas gestohlen hatte, an das er sich jetzt nicht erinnern konnte.
    »Oh – Mr. O'Neill, wenn ich mich nicht irre?« sagte sie.
    »Nein«, sagte Miss Wooster. »Das ist Mr. Garrett. Mr.
    Garrett, Miss Holquist. Oder kennen Sie sich etwa?«
    »O ja«, sagte Miss Holquist.
    Andy wußte, daß ihm kein Ausweg blieb. Selbst mit dem unauffälligsten Allerweltsgesicht war er für Myra Holquist wiedererkennbar, denn erst vor einem halben Jahr war er zweimal bei ihr gewesen. »Tut mir leid«, sagte er.
    »Ich heiße Garrett. Ich weiß nicht, warum ich mich Ihnen als O'Neill vorgestellt habe. Vielleicht aus purer Aben-teuerlust. Oder weil ich ausprobieren wollte, wie sich ein Pseudonym ausnimmt. Schriftsteller, die Garrett heißen, sind nicht gerade Mangelware.«
    Myra Holquist nickte geistesabwesend. »Wie steht es mit Ihrem Projekt? Wollten Sie nicht eine Reportage über das Verschwinden von Abbruchgrundstücken aus dem Leben der New Yorker Kinder verfassen? Irgend etwas in der Art?«
    Jetzt sah Miss Wooster ihn mit einem merkwürdigen Blick an.
    »Irgend etwas in der Art«, stammelte Andy hilflos. »Tja, ich muß langsam gehen.«
    Er kam sich zutiefst geschlagen, beschämt und erniedrigt vor. Nichts war von seinem forschen Auftreten geblieben.
    Er drückte den Knopf für den Fahrstuhl, der bedau-erlicherweise entschwunden war.
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    »Einen Augenblick, Mr…. Garrett. – Entschuldigen Sie bitte, Miss Wooster. – Ich habe mich damals über Ihren eiligen Abgang gewundert«, sagte Miss Holquist zu Andy.
    »Hatte das eventuell etwas mit einem javanischen Zigarettenetui zu tun?«
    »Ich verstehe Sie nicht«, sagte Andy und runzelte in gespielter Ratlosigkeit die Stirn.
    Sie lächelte ihn unfroh an. »O doch, das tun Sie. Miss Wooster, kennen Sie diesen Mann schon länger?«
    »Nein«, erwiderte Miss Wooster. »Erst seit heute nachmittag. Er –«
    »Dann sollten Sie in Ihrer Wohnung nachsehen, ob irgend etwas fehlt, bevor Sie ihn aus dem Haus gehen lassen.«
    Miss Wooster starrte ihn mit offenem Mund an, und Andy biß die Zähne aufeinander und wünschte inständig, der Fahrstuhl würde erscheinen, doch er war nicht einmal von ferne zu hören.
    »Miss Wooster, das habe ich ernst gemeint«, sagte Miss Holquist in gebieterischem Ton.
    Ein Rest Selbstachtung, vielleicht sogar der Beginn eines Plans, veranlaßte Andy abzuwinken, als die Lifttür sich öffnete. »Nein, danke«, sagte er zu dem Fahrstuhlführer, drehte sich um und folgte Miss Wooster in ihr Wohnzimmer wie ein Verurteilter, der zum Richtplatz abgeführt wird.
    Myra Holquist begleitete sie.
    »Oh, mein goldener Maya-Schmuck! « rief Miss
    Wooster. »Er ist weg!« Sie schaute Andy aus furchtsam 163
    aufgerissenen Augen an. »Ha-haben Sie ihn gesehen?«
    stotterte sie.
    »Geben Sie ihn ihr zurück, Mr. O'Neill oder Garrett«, sagte Miss Holquist von oben herab.
    Da schlug Andy ihr mit aller Kraft seines muskulösen rechten Arms gegen den Kopf, und sie stürzte zu Boden. Er kniete nieder, packte sie an der Kehle und schlug ihren Kopf immer wieder auf den Boden, ohne Miss Woosters Entsetzensschreie zu bemerken, ebensowenig wie ihre fruchtlosen Bemühungen, ihn wegzuzerren. Während dieser Sekunden der Gewalttätigkeit war Andys Geist von jedem Gedanken entleert und nur von dem Gefühl oder Eindruck beherrscht, daß die Frau, auf die er einschlug, ihn verraten, entehrt, unerträglicher Scham und Schande ausgesetzt hatte. Ihr übertrieben geschminktes Gesicht versinnbildlichte alles, was er am weiblichen Geschlecht verachtete, all seine

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