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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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erinnern«, erwiderte Miss Cassidy, »aber mich sprechen viele Leute an, weil sie jemanden kennen, der Modeschöpfer werden will.«
    »Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß etwas aus Ihrer Wohnung fehlte, nachdem ich Sie besucht hatte?«
    »Fehlte? Was meinen Sie damit?«
    »Irgendein kleiner Gegenstand aus Ihrem Atelier – oder von Ihrem Arbeitstisch –, ich weiß es nicht mehr genau.«
    »Der ist nicht ganz bei Trost«, murmelte eine Stimme hinter ihm.
    »Können Sie auf die Wache kommen? Bitte!« flehte Andy sie an.
    Miss Cassidy hatte keine Zeit für so etwas. Andy bat sie, einen Moment zu warten, reichte den Hörer einem Polizisten und bat ihn, sie dazu zu bewegen, auf die Wache zu kommen. Der Polizist hatte mehr Glück als er.
    Bange fünfundvierzig Minuten ließ man Andy auf einer Holzbank warten, von der er jederzeit zur Tür hinaus und 170
    auf die Straße hätte entwischen können. Schließlich kam Miss Cassidy, klein und elegant, in einem kurzen Pelz-umhang und mit einem Hut aus Federn. Die Polizisten brachten sie zu Andy und fragten sie, ob sie diesen Mann schon einmal gesehen habe. Miss Cassidy sah ihn verblüfft an.
    »Ich habe etwas abgenommen«, sagte Andy erklärend.
    »Nicht viel, aber es könnte mein Aussehen verändert haben. Wir haben uns über Yves Saint Laurent unterhalten, wissen Sie noch? Über unkonventionelle junge Talente und so weiter?«
    Es war nichts zu machen. An ihm haftete inzwischen ein Odium der Schäbigkeit und Heruntergekommenheit. Er war nicht mehr der gesunde, zuversichtliche Mann, mit dem sie sich vor einem Jahr oder vielleicht vor zwei Jahren unterhalten hatte.
    Miss Cassidy schüttelte den Kopf und sah die Polizeibe-amten an. »Ich hoffe, daß ich die Aufklärung irgendwelcher Verbrechen nicht behindere, aber soweit ich mich erinnern kann, bin ich diesem Mann noch nie begegnet.
    Wollte er mich als Alibi benutzen?«
    »Nein, als Belastungszeugin. Er gibt sich als Mörder aus«, sagte einer der Beamten lächelnd. »Typischer Tritt-brettfahrer. Die gibt es wie Sand am Meer. Und ausgeschmückt hat er seine Geschichte mit irgendwelchen Klein-diebstählen in ganz New York.«
    Mit einemmal schien Miss Cassidy sich vor ihm zu fürchten. Weiber, dachte Andy. Warum hatte sie ihn nur vergessen? Es war noch nicht einmal Absicht, dachte er, 171
    sondern nur ein weiterer Schlag, den sie im ewigen Kampf der Geschlechter unbewußt geführt hatte.
    »Wir haben uns bei seiner Firma erkundigt«, fuhr der Beamte fort. »Er hat in den neun Jahren, seit er dort arbeitet, keinen einzigen Tag blaugemacht. – Hören Sie mal, hat Ihre Firma wohl sowas wie einen Psychiater oder so?«
    fragte er Andy. »Ich glaube, Sie sollten sich mal untersu-chen lassen, Forster. Vielleicht haben Sie in letzter Zeit einfach zuviel gearbeitet.«
    Wenige Minuten später war Andy entlassen und stand auf der Straße.
    Er ging in die Subway-Station und warf sich vor den nächsten einfahrenden Zug.
    172

    Die zweite Zigarette

    George Leister, ein einundfünfzigjähriger New Yorker Steueranwalt, kam eines Samstagmorgens in die Küche und war einigermaßen überrascht angesichts der frisch angezündeten Zigarette, die in einem Aschenbecher vor sich hin glomm. George blickte auf die Zigarette in seiner Hand, auch sie frisch angesteckt, und tadelte sich ob seiner Zerstreutheit. Dabei hatte er sich doch geschworen, seinen Zigarettenkonsum auf zehn pro Tag zu reduzieren.
    Allerdings schaffte er es bislang noch nicht unter fünfzehn.
    George drückte die Zigarette im Aschenbecher vorsichtig aus, um sie für seine restliche Tagesration aufzusparen – er zählte sehr wohl! –, langte nach der Kaffeekanne und war eben im Begriff, sich noch eine Tasse einzugießen, als er in der Küchentür, durch die er eben hereingekommen war, eine Gestalt bemerkte. George erschrak so heftig, daß er die Kanne hochriß und ein paar Tropfen Kaffee auf dem Fußboden verschüttete.
    Die Gestalt in der Tür war er selbst; es war, als ob er in einen Spiegel blickte, nur daß sein Ebenbild sanft lächelte.
    George dagegen nicht.
    »Ich bin auch Raucher«, sagte die Gestalt leise und in belustigtem Ton.
    George zitterte, aber er drehte sich zur Seite, bezwang seine Hand und schenkte sich mit äußerster Vorsicht eine Tasse Kaffee ein. Das war eine sowohl akustische als auch 173
    visuelle Halluzination, dachte er. Wurde er am Ende verrückt? Aber wieso? Er hatte gestern einen ruhigen Abend zu Hause verbracht – nichts Ausgefallenes gegessen, kein Glas

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