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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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höchstwahrscheinlich alle Frauen verabscheute. Juliette hatte er einmal geliebt, aber sie hatte ihn im Stich gelassen – aufs beschämendste und gnadenlos. Dennoch war sie die Mutter seiner Tochter Martha, die er vergötterte.
    Abends – jeden Abend – las Andy, und das bis fast drei Uhr morgens. Er litt unter Schlafstörungen. Manchmal kam es ihm sogar in den vier Stunden von drei bis sieben, wenn er aufstand, so vor, als hätte er nicht geschlafen, sondern nur mit geschlossenen Augen geruht. Vor zwölf Jahren hatte er eine Encyclopaedia Britannica gekauft, die er mittlerweile zu achtzig Prozent gelesen hatte. Meistens las 155
    er abends darin; er lehnte die schweren Bände an die Wand hinter dem Bett und studierte sie auf dem Bauch liegend.
    Wenn Juliette irgendwann auf ihrer Seite ins Bett kroch, nahm er es gar nicht mehr wahr.
    Die Beute aus seinen Verabredungen mit Frauen bewahrte er in einer ledernen Aktenmappe mit dem eingeprägten Signet seiner Staubsaugerfirma ganz hinten in seiner untersten Schublade auf, obwohl nichts unwahrscheinlicher war, als daß Juliette je einen Blick in diese Schublade warf: In seinen unteren Schubladen hatten sich, seit er denken konnte, wie aus eigener Kraft Socken mit Löchern, Hemden, an denen Knöpfe fehlten, Unterhosen, die zum Tragen zu schäbig waren, zum Wegwerfen aber nicht schäbig genug, Pyjamaoberteile ohne Hosen und umgekehrt angesammelt. Wenn er Lust hatte, nähte Andy die Hemdknöpfe selbst an und stopfte seine Socken.
    Inzwischen enthielt die Aktenmappe die Armbanduhr der Schauspielerin, den Ring einer Bildhauerin, das silberne 12-Zoll-Lineal der Modeschöpferin, das granatbe-setzte javanische Zigarettenetui der Journalistin, die dünne goldene Halskette einer Violinistin der New Yorker Phil-harmoniker, eine hübsche silberne Bleistifthülle, deren Besitzerin er vergessen hatte, einen Parfumflakon aus blauem Glas in geflochtenem Silberdraht, einen Topasring, entwendet vom Toilettenspülkasten im Badezimmer einer angesäuselten Nachtclubsängerin, die sich mit Vorliebe zu Hause betrank, ein Tanagrafigürchen, das er in ein Taschentuch eingewickelt aufbewahrte, und einen alten silbernen Flachmann.
    Andy hatte vor, vieles davon Martha zu schenken, wenn 156
    sie einundzwanzig wurde und das College verließ, vielleicht sogar zu Hause auszog, falls sie bis dahin heiraten sollte. Er wollte die Geschenke langsam über die Jahre ver-teilen, um Juliette nicht mißtrauisch zu machen, was, da sie ohnehin kaum auf ihn achtete, kaum vorstellbar war.
    Nach sechs Wochen ununterbrochenen Staubsaugerver-kaufens und abendlicher Heimkehr zu einer mehr oder weniger schweigsamen Ehefrau wurde Andy für gewöhnlich unruhig und plante ein neues Abenteuer. Eines Nachmittags im Mai betrat er eine Telefonzelle in der Bronx, um eine Ethnologin namens Rebecca Wooster anzurufen, die er an einem Sonntagnachmittag in einer Fernsehsendung gesehen hatte. Sie war gerade von Feldforschungen in Westindien und Mittelamerika zurückgekommen. Andy hatte ihre Telefonnummer im Telefonbuch ausfindig gemacht, doch die Vermittlung hatte ihm eine neue Nummer genannt, die er notiert und angerufen hatte. Eine Frauenstimme antwortete, und sobald Andy sich vergewissert hatte, daß er es mit Miss Wooster zu tun hatte, spulte er sein gewohntes Programm ab.
    »Ich heiße Robert Garrett.« (Seinen wahren Namen nannte er nie.) »Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie einfach anrufe, aber ich habe Sie neulich im Fernsehen gesehen, und seitdem – nun, ja, seitdem muß ich ständig über das nachdenken, was Sie sagten. Ich bin selber eine Art Hobbyethnologe und habe eine Theorie entwickelt, die auf psychologischen statt rassischen Zugehörigkeits-kriterien fußt. Ich würde mich gern mit Ihnen darüber unterhalten, wenn Sie Zeit hätten, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie bereit wären, die paar Seiten zu 157
    überfliegen, die ich darüber verfaßt habe.«
    Er sprach noch ein paar Minuten länger langsam und ernsthaft weiter, um ihr Zeit zu lassen, hin und wieder durch eine Bemerkung zu zeigen, daß sie ihm zuhörte, und zwar interessiert zuhörte. Bei der Fernsehsendung war ihm aufgefallen, daß sie warmherzig und freundlich wirkte und geduldig alle Fragen am Ende der Sendung beantwortet hatte, auch die weniger geistvollen. Zuletzt entschuldigte er sich ein zweitesmal für die Belästigung und fragte behutsam, ob ein kurzes persönliches Gespräch wohl möglich sei.
    »Ja, das kann ich sicher einrichten«,

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