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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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sagte sie mit ihrer bedächtigen, angenehmen Stimme. »Wie wäre es morgen?
    Gegen halb sechs?«
    »Das wäre prima«, erwiderte Andy. »Es ist mir eine sehr große Ehre, Miss Wooster.« Er fragte sie nach ihrer Adresse, und sie verabschiedeten sich voller Herzlichkeit.
    Am nächsten Nachmittag war Andy pünktlich zur Stelle; er hatte eine große Weltkarte mitgebracht, auf der mit Kreisen, die sich zuweilen überschnitten, seine »psychologischen Zugehörigkeitsgruppen« verzeichnet waren.
    Das Ganze war größtenteils Humbug, wie er sehr wohl wußte, doch er hatte sein Bestes getan, soweit es nach Lektüre einiger soziologischer Studien möglich war. Und er hatte seinen dreiseitigen »Entwurf« dabei.
    Miss Wooster wohnte im vierzehnten – genaugenommen im dreizehnten – Stockwerk eines unauffällig eleganten Gebäudes an der Park Avenue. Sie begrüßte ihn an der Fahrstuhltür. Andy deutete eine Verbeugung an, und sie 158
    führte ihn in einen großen Raum, der bis auf einen ge-drungenen Schreibtisch am Fenster wie ein Wohnzimmer aussah.
    »Sie haben sich als Hobbyethnologen bezeichnet«, sagte Miss Wooster, nachdem sie auf dem Sofa Platz genommen hatten.
    »So ist es. Ich arbeite in einer Firma, die Bestandskataloge für die Public Library zusammenstellt. Das ist keine besonders aufregende Tätigkeit, aber zwangsläufig lese ich eine Menge.« Er erhob sich mit einer gemurmelten Entschuldigung und ging mit beeindruckter Miene zu den Bücherregalen, auf denen zwischen den Büchern Klein-skulpturen und edelsteinverzierte indianische Figurinen standen. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er zerknirscht.
    »Wie faszinierend! So etwas habe ich bisher nur hinter Glas im Museum zu sehen bekommen.«
    Mit geschmeicheltem Lächeln trat sie zu ihm; sie unterhielten sich eine Viertelstunde lang über die Exponate.
    Andys besonderes Interesse galt einem Maya-Schmuckstück aus gehämmertem Gold, von dem zahllose kleine goldene Anhänger baumelten, die mit winzigen grünen Edelsteinen als Gewichten versehen waren. Das Schmuckstück war klein genug, um in seine Jackentasche zu passen; er mußte nur den richtigen Moment abwarten, um es ein-zustecken – vielleicht wenn Miss Wooster sich abwandte, um zum Telefon auf dem Schreibtisch zu gehen. Andy wollte nicht darauf zurückgreifen müssen, um ein Glas Wasser zu bitten, obwohl auch das schon vorgekommen war. Zumindest schien es keine Dienstboten zu geben, die an Stelle von Miss Wooster das Wasser bringen würden.
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    »Zeigen Sie mir doch den Entwurf, den Sie erwähnten«, sagte Miss Wooster, die sich in einen Sessel in der Nähe des Bücherregals setzte. »Um sechs Uhr bekomme ich leider Besuch, aber ich konnte den Termin nicht verschieben.«
    Andy warf einen Blick auf seine Armbanduhr; es war bereits Viertel vor sechs, und er sagte: »Ich fasse mich so kurz wie möglich.« Er ging zu seiner Aktentasche am anderen Ende des Zimmers und kramte zwischen den Wer-beprospekten für Marvel-Staubsauger seine Weltkarte und die drei Seiten Text hervor. Dann holte er tief Luft und begann zu sprechen, langsam, doch so, daß Miss Wooster ihm nicht ins Wort fallen konnte.
    Auf ihren Zügen malte sich ein ungläubiges, möglicherweise amüsiertes Lächeln.
    »Sie denken sicher – ich meine, für eine solche Studie fehlen mir sicher die Voraussetzungen«, sagte er als letztes.
    »Nein. Ich finde es interessant. Ich bewundere Ihren Enthusiasmus.« Sie hatte seinen Entwurf durchgesehen.
    »Ich glaube allerdings, daß Sie sich geirrt haben mit der Ähnlichkeit, die Sie zwischen Ainu und Chinesen vermu-ten… «
    Andy lauschte aufmerksam, während sie sprach und die Minuten vergingen. Er fragte sich, ob er den Maya-Schmuck bei diesem ersten Besuch bekommen würde und ob er sie dazu würde bewegen können, ihm einen zweiten Besuch zu erlauben, falls es ihm nicht gelang. Unverzüglich verscheuchte er die Zweifel aus seinen Gedanken.
    Zweifel waren tödlich. Und zumindest ließ Miss Wooster 160
    nicht durchblicken, daß sie seine Theorie für völlig abwegig oder irrelevant hielt.
    Es klingelte.
    »Ach, das ist mein Besuch«, sagte Miss Wooster im Aufstehen. »Ein bißchen früh. Entschuldigen Sie mich, Mr.
    Garrett.«
    Andy erhob sich lächelnd. Besser hätte er es nicht einfä-
    deln können. Miss Wooster ging in den Flur, um die Ge-gensprechanlage zu bedienen, und Andy steckte schnell das Schmuckstück ein und arrangierte die entstandene Lücke so, daß sie nicht sofort auffiel, jedenfalls nicht,

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