Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
Vom Netzwerk:
Pech, daß er fand, er habe ein gnädigeres Schicksal verdient als den unbarmherzigen Zugriff der Justiz. Und deshalb stählte er sich innerlich, um dem Be-wußtsein gewachsen zu sein, daß ein Dritter, eine Frau, sein Verbrechen miterlebt hatte und, sollte sie ihm je begegnen, sein gegenwärtiges Leben jederzeit beenden konnte. Die Aktenmappe voller Diebesgut hinten in seiner untersten Schublade mochte er nicht einmal mehr anrühren.
    Allein der Gedanke an sie vereitelte jedes Tun, mit dem er sich von ihr hätte befreien können.
    Sechs Monate vergingen. Andy verlor etwas Gewicht, doch so allmählich, daß weder Juliette noch irgend jemand in seiner Firma sich dazu äußerte. Auf der Straße konnte er keinem Polizisten ins Gesicht sehen, und er konnte sich nicht abgewöhnen, mit prüfendem Blick die Mienen all derer zu überfliegen, die einen Fahrstuhl verließen. Bei dem einzigen Anlaß, als er mit Juliette ins Theater gegangen 167
    war (an ihrem Geburtstag und auf ihren Wunsch hin), hatten die Pausen im Foyer ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben.
    Und dann las Andy in der Zeitung, daß Rebecca Wooster mit neunundvierzig Jahren auf Ceylon bei der Arbeit einem Herzanfall erlegen war. Das verarbeitete er über einen Zeitraum von drei Tagen, und am Ende der drei Tage nahm er die Aktenmappe aus der Schublade und warf sie von der George Washington Bridge.
    Danach fühlte er sich besser, und er erwartete, daß es im Verlauf der Zeit weiter bergauf gehen würde. Eine Zeitlang schlief er besser, doch dann nahm die Schlaflosigkeit wieder zu. Er bekam Ringe unter den Augen, purpurne Ringe, die nicht mehr verschwanden.
    Als er sich eines Nachts schlaflos im Bett hin und her warf, begriff er, woran es lag. Jetzt hatte er keinen bestimmten Feind mehr, niemanden, der das Wissen um seine Schuld teilte. Er hatte nur sich.
    Seit Wochen kämpfte er mittlerweile gegen den Drang an, alles zu gestehen, denn er wußte, was er damit seiner Tochter und sogar Juliette antun würde. Doch zugleich gelang es ihm nicht, sich einzureden, daß es weniger schmählich sei, sein Geheimnis, das Wissen um sein Verbrechen, für sich zu behalten. Schließlich war er ein Mitglied der Gesellschaft, genau wie seine Tochter und seine Frau.
    Und an einem kalten Nachmittag im Februar ging Andy zu einer Polizeiwache im Osten Manhattans und stellte sich. Er sagte, er sei der Robert Garrett alias O'Neill, der 168
    im vergangenen Mai in der Wohnung der verstorbenen Rebecca Wooster Myra Holquist erdrosselt hatte.
    Seine Lider zuckten, wie sie es inzwischen unablässig taten, und er merkte, daß er nicht sehr überzeugend wirkte.
    Doch mit der Mauer unerschütterlicher Skepsis, auf die er bei den Polizisten stieß, hatte er nicht gerechnet.
    Ein höherer Beamter verhörte ihn mehrere Minuten lang eindringlich, rief bei einer anderen Wache an, um die Beschreibung Garretts-O'Neills zu überprüfen, und zeigte sich dennoch nicht überzeugt.
    »Wurden Sie schon einmal in einer Nervenheilanstalt behandelt?« fragte ihn der Polizeibeamte. »Nein«, antwortete Andy.
    Ein anderer höherer Beamter erschien, und Andy wiederholte seine Geschichte, die er nun um Einzelheiten seiner früheren Diebstähle bereicherte. Doch sein Gedächtnis ließ ihn im Stich. Er konnte sich nur noch an den Namen einer unter all den Frauen erinnern, die er beraubt hatte –
    Irene Cassidy, die Modeschöpferin. Aber was hatte er bei ihr mitgehen lassen? Er könne einige der gestohlenen Gegenstände beschreiben, aber keinen einzigen vorweisen, erklärte er, weil er sie vor zwei Wochen von der George Washington Bridge geworfen hatte.
    »Rufen wir Irene Cassidy an«, sagte der Neuankömmling.
    Miss Cassidy arbeitete in ihrem eigenen Atelier und war zu Hause. Der Polizeibeamte schilderte ihr den Sachverhalt so umständlich, als wolle er die Frau absichtlich verwirren, dachte Andy. Den Worten des Beamten konnte er entneh-169
    men, daß dieser auf alle Fragen verneinende Antworten erhielt, und Andy bat, selbst mit ihr sprechen zu dürfen.
    Man reichte ihm den Hörer.
    »Hallo, Miss Cassidy«, sagte Andy. »Ich weiß nicht mehr, unter welchem Namen ich mich Ihnen vorgestellt habe, aber ich hatte Sie um das Gespräch gebeten, weil ich behauptete, meine vierzehnjährige Tochter wolle Modeschöpferin werden. Erinnern Sie sich? Das war vielleicht vor etwas mehr als einem Jahr.« Vielleicht war es vor zwei Jahren gewesen.
    »Na ja, wenn ich Sie sehen würde, dann könnte ich mich unter Umständen

Weitere Kostenlose Bücher