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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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elektrisch und nahm sich auch kaum Zeit zum Anziehen, denn er hatte das Gefühl, die Tagträumerei und das Trödeln, wozu er neuerdings neigte, könnten die Halluzination heraufbeschworen haben. Daß es sich um eine Halluzination handelte, davon war er überzeugt. Was sollte es sonst sein? An Gespenster oder das Übernatürliche glaubte er grundsätzlich nicht, und wenn er einen Artikel über außersinnliche Wahrnehmung las, dann tat er es 179
    kritisch und mit dem Vorsatz, seine Skepsis bestätigt zu finden.
    Die Geistererscheinung zeigte sich nicht mehr, als George aus dem Haus ging, und er sah sich nicht nach ihr um.
    Draußen im hellen Sonnenlicht fühlte er sich frei und sicher. Das Hupen der Taxis klang angenehm beruhigend.
    Der Anblick eines schwarzen Zwergpudels, der im Rinn-stein sein Geschäft machte und den eine junge Frau fest an der Leine hielt, erschien ihm wie die personifizierte Nor-malität. Er atmete tief durch und fühlte sich ganz gut in Form. Hatte er nicht knapp vier Pfund abgenommen, seit Liz ausgezogen war? Doch. Trotzdem, das mit den Mädels, den Frauen … ganz schön kindisch in seinem Alter. Na ja, kindisch vielleicht nicht, aber er konnte auch nicht mehr so tun als ob, oder sich heute noch aufführen wie ein flotter Dreißiger. Etwas anderes wäre es, wenn einer seiner Freunde oder Geschäftspartner ihn mit einer interessanten und ungebundenen Frau bekannt machte. Aus so einer Begegnung mochte sich eine Affäre entwickeln, vielleicht sogar eine Heirat. Das war nicht ausgeschlossen, nein.
    »Nein?«
    Die Stimme in seinem Ohr war seine eigene gewesen.
    Oder vielmehr die des Trugbildes, und genauso klar, wie er sie zu Hause gehört hatte. George legte einen Schritt zu, aber bald fiel er ins gewohnte Tempo zurück. Er würde sich nicht umschauen. Komische Vorstellung, daß der Kerl
    – er selbst! – in Pyjama und Morgenmantel die Fifth Avenue entlang spazierte! Aber womöglich war er jetzt genauso angezogen wie George und trug einen beige-180
    grundigen Anzug mit Schottenkaro und darunter einen blauen Rollkragenpullover. George versuchte an etwas anderes zu denken. Der Montag würde verteufelt an-strengend werden. Gleich zwei Konferenzen, die eine morgens um zehn, die andere am Nachmittag, waren wegen der Firma Polyfax angesetzt. Polyfax produzierte Plastik in allen Formen und Größen. Die Firma unterhielt ein kanadisches Zweigwerk, das allerdings einen anderen Namen trug. Welchen? Die Firmenleitung hatte mit fri-sierten Steuererklärungen ihre Bilanzen geschönt und die Schuld je nach Lage der Dinge mal auf Kanada, mal auf die USA geschoben. Freer, Leister & Foreman hatten die Bücher der Polyfax aus den letzten drei Jahren überprüfen müssen.
    »Polyfax, Polyfax«, erklang Georges eigene Stimme höhnisch in seinem Ohr.
    George hörte nicht hin. Am besten nahm er sich die Kopien heute abend noch einmal gründlich vor und über-flog sie auch morgen noch mal kurz, damit er am Montag gut präpariert war für den alten Freer. »Wir schulden den Klienten unser Bestes – im Rahmen der Gesetze«, lautete Henry Tubman Freers redundanter Wahlspruch, und jedesmal, wenn er ihn zitierte, klang es, als hätte er nur laut gedacht. Statt zu arbeiten, wäre George gerade heute abend eigentlich lieber ausgegangen. Aber die Einladung zum Abendessen bei Ralph Foreman, ihrem Juniorpartner, hatte er ja ausgeschlagen. Ralph hatte ihn mit einem jungen Mann bekanntmachen wollen, der offenbar gern in die Kanzlei eingestiegen wäre. Tja, nicht zu ändern. George machte kehrt und ging zurück nach Hause.
    181
    Der Abend verlief ungestört. Das Gespenst zeigte sich nicht, sosehr George das auch befürchtet hatte, denn er hielt es für wahrscheinlicher, daß Geister, wenn schon, dann bei Nacht erschienen. Was für ein alberner und kindischer Gedanke.
    Auch am Sonntagvormittag, der ansonsten genauso verlief wie der Samstagmorgen, blieb die Erscheinung aus.
    Georges Gemütszustand besserte sich. Gegen zwölf briet er sich ein Hähnchen aus der Tiefkühltruhe, das er seit dem Frühstück hatte auftauen lassen. Er aß zu Mittag, und um drei rief er seinen Sohn an, George junior. Es war Tra-dition, daß George sonntags zwischen zwei und drei bei den Kindern anrief.
    »Gropsa!« krähte die Kinderstimme am anderen Ende.
    Im Hintergrund hörte George das herzhafte Lachen seines Sohnes, und als George jr. an den Apparat kam, er-klärte er: »Wir haben versucht, Georgie das Wort
    ›Großpapa‹ beizubringen. Und er kann's

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